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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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die gefrorene, knisternde
     Wiese lief er geradewegs hinüber zum Fluß. Dort stand die alte Mühle. Heute kümmerte es ihn nicht, ob man ihn beobachtete.
     Er würde sein Versteck nie wieder aufsuchen.
    Die kleine, fahle Sonne stand knapp über dem Wald. Sie vermochte kaum, die grauen Wolken zu durchbrechen mit ihrem Licht.
     Von den Bäumen am Waldrand flogen Krähen auf. Sie krächzten.
    Er stieg den Mühlenhügel hinauf. Die verfallenen Flügel, das brüchige Gemäuer, das kleine Fensterloch – dies war seine Heimat
     gewesen. Er trat durch die niedrige Tür. Ins Innere der Ruine fiel wenig Licht. Es roch nach Steinstaub und vermoderndem Holz.
     Nemo berührte jeden Steinvorsprung, jeden |251| Zweig, der aus den Mauerritzen sproß, jeden Moosballen. Es galt, sich von der alten Mühle zu verabschieden.
    Bei den Birken, die durch eine Kluft im Gemäuer nach draußen wuchsen, kniete er nieder und wischte mit der flachen Hand die
     Erde vom Boden. Er zwängte die Fingerspitzen in eine Steinspalte und löste einen flachen Stein heraus. Darunter gähnte ein
     Loch. Er griff hinein und hob den tönernen Topf heraus. Ein Lederlappen verschloß den Topf. Er zog ihn herunter. Die Münzen
     schimmerten verlockend. Die Zeit drängte, er durfte sie jetzt nicht zählen. Bald schon würde ihn der Perfectus suchen lassen.
    Entgegen seinem Entschluß wälzte er doch den Topf um und schüttete die Münzen auf den Boden. Das Klirren jagte ihm einen wohligen
     Schauer über den Rücken. Da waren Münchner Silberpfennige, daumennagelgroß, mit einem Mönch mit Kapuze darauf und einem Kreuz.
     Da waren goldene bayerische Schildgulden, Hälblinge, Schwäbische Heller. Obwohl er ihre Zahl kannte, konnte er nicht widerstehen.
     Er begann, die Münzen in Stapeln von zehn aufzuhäufen.
    Wenn er sie zählte, wenn er sie durch die Finger auf einen Stapel fallen ließ, dann klickten sie leise. Er fühlte sich sicher,
     wenn er dieses Klicken hörte. Er fühlte sich geborgen. Er schloß die Augen, um es noch deutlicher hören zu können.
    Plötzlich sah er den Vater vor sich, den Schnurrbart, die schwarze Augenklappe, die behaarten Arme. Der Vater saß vor einem
     mächtigen Tisch und zählte Münzen. Ihm, Nemo, hatte man eine Münze gegeben. Er spielte damit auf dem Fußboden. Warf sie hin.
     Hob sie wieder auf. Versuchte, sie zu rollen.
    Nemo riß die Augen auf. Er zog am Lederband um seinen Hals, holte den Gros Tournois hervor. War das sein Spielzeug gewesen?
     Er betrachtete die Burg Tournois auf der Vorderseite und die zwölf Lilien. Warum ließ jemand sein Kind allein? Die Eltern
     hatten ihm sein Spielzeug gegeben und ihn verlassen.
    Er ballte die Hände zu Fäusten. Du mußt dich jetzt zusammennehmen, dachte er. Diese Verwandlung mußte gut gehen, |252| oder er verlor alles, was er sich in Jahren mühsam zusammengespart hatte, und das nackte Leben noch dazu.
    Drei Goldgulden, hundertsiebzehn Silberpfennige, hundertachtundsechzig Hälblinge, achtundsiebzig Schwäbische Heller. Er schüttete
     sie mit beiden Händen wieder in den Topf, stopfte zum Schluß den Lederlappen hinein.
    Er trat aus der Mühle ins Freie. Der Wind rauschte in den Bäumen. Die Luft war frisch und klar. Die Jahre, die er sich hier
     versteckt hatte, um nicht umgebracht zu werden wie die Chorherren des Spitalordens, und die Jahre, die er sich vor Venk von
     Pienzenau verborgen hatte, waren es nicht am Ende gute Jahre gewesen? Er hatte in der Mühle gespeist und gehungert. Er hatte
     gelebt.
    In der Ferne heulte ein Wolf. Weitere Wölfe stimmten ein. In Nemos Brust zog sich etwas zusammen. Der Ruf der Wölfe trug Trauer
     in sich. Er bedeutete Sehnsucht und unerbittliche Gewalt.
    Er hatte eine Fährte gefunden, die zu seinen Eltern führte. Die Ruhe war vorüber. Womöglich hatte er das letzte Mal weggeworfene,
     verwelkte Kohlblätter gegessen und den Flößern einen Dummkopf vorgespielt. Es war Zeit, daß er alles Ersparte und sein Leben
     in die Waagschale warf.

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    Über der Flamme des Talglichts schmolz das blaue Siegelwachs. Es tropfte auf den Brief. Weißer Dampf stieg auf. Als der Fleck
     groß genug war, nahm Vizenz den Silberstempel und drückte sein spitzovales Zeichen in die blaue Masse. Er blies darauf, um
     sie zu trocknen.
    An der Tür erschien der Gehilfe. »Herr, ich bin zurück mit dem Boten.«
    »Gut.« Er erhob sich. Das Geld hatte er bereits ausgezählt. Er nahm das Säckchen und den Brief und ging zur Tür. Draußen in
     der

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