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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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Schneedämmerung tänzelte das Pferd des Boten. Er stand davor und tätschelte ihm den Hals, um es zu beruhigen.
    Vizenz überreichte Brief und Säckchen.
    Der Reiter wog den Beutel kurz, dann saß er auf und ritt davon. Vizenz blieb stehen und sah ihm nach. Er atmete durch den
     Mund und sog dabei Schneeflocken ein. Kalt rührten sie an seine Lippen. Sie schmolzen zu stumpfem Wassergeschmack.
    Kinder liefen mit zum Himmel gerichteten Gesichtern über die Straße. Sie versuchten, auf der ausgestreckten Zunge Schneeflocken
     einzufangen. O ja, der Blick zum Himmel. Er erinnerte sich. Wie in seinen Kindheitstagen richtete Vizenz das Gesicht nach
     oben. Die Schneeflocken sanken in endloser Folge auf ihn nieder. Soweit er blicken konnte, kamen immer neue nach.
    In der Luft lag der Geruch von Holzfeuer. Ein Karren fuhr vorüber. Alle Geräusche waren gedämpft: Das Knarren der Räder, das
     Scheppern des Ochsengeschirrs, die aufmunternden Rufe des Wagenlenkers. Auch das Hundegebell aus dem Nachbarhof drang leiser
     an sein Ohr. Es war, als würde der |254| Schnee das Leben verlangsamen, als würde er die Menschen zum Innehalten ermahnen.
    Er war zu schwach. Wie damals, als ein Spitzel hinter die geheimen Machenschaften des Spitalordens kam, mußte er sich Hilfe
     holen. Allein schaffte er es nicht, Amiel niederzuwerfen, so schwer es ihm auch fiel, sich das einzugestehen.
    Was hatte William Ockham hier verloren? Der englische Gelehrte spazierte die Straße entlang, offenkundig gut gelaunt. Er war
     unberührbar, und er wußte es. Während sich der alte Ordensgeneral der Franziskaner, Michael von Cesena, in strenger Klosterhaft
     befand, wagte man sich an William Ockham nicht heran. Dabei stand er genauso unter dem Bann der Kirche. Aber man behandelte
     den Ketzer wie einen Heiligen, man fürchtete und achtete ihn.
    Ihr letztes Gespräch war nicht gerade fruchtbar verlaufen.
    Vizenz hatte eine Menge preisgegeben, beinahe alles, was er über Amiel aus Frankreich wußte. Die erwartete Gegenleistung Williams
     war aber ausgeblieben. Weder hatte er die Pläne des Kaisers offenbart noch ihm geraten, wie Amiel im Zaum zu halten war.
    Der Alte trug eine Fellmütze auf dem Kopf, und seine Hände steckten in dicken Fäustlingen. Die Augen blitzten voller Lebenslust.
     »Mein lieber Pater Paulstorffer, wollt Ihr Euch erkälten? Zieht Euch besser etwas über.«
    Eine Frechheit, ihn so anzusprechen. »Ihr übertreibt«, gab Vizenz zurück, »mit Euren Fäustlingen.« Aber William hatte recht,
     ihm wurde kalt. Nur konnte er es jetzt nicht mehr einfach zugeben.
    »Kommt, wir laufen ein Stück. Ich will raus zum Wald, ich weiß dort eine Stelle, wo Schlehen wachsen. Vielleicht war noch
     niemand dort. Ihr wißt doch, nach dem ersten Frost sollte man Schlehen pflücken, vorher saften sie nicht.«
    »Was wollt Ihr mit den Beeren?«
    »Ich überbrühe sie mit kochendem Wasser und lasse sie einige Stunden ziehen. Heraus kommt eine Art Kirschsaft. Er schmeckt
     köstlich!«
    |255| »Ihr brüht Saft? Ein Gelehrter? Das ist Arbeit für Mägde.«
    »Mag sein. Es tut mir gut, diese Welt nicht aus den Augen zu verlieren. Gott hat sie geschaffen. Kommt mit, dann werdet Ihr
     es verstehen.«
    William Ockham wollte mit ihm, dem Inquisitor, Schlehen pflücken? Er war ein Feind der Kirche. Kaum besser als Amiel von Ax.
     Sich mit ihm zu zeigen gab Anlaß für ungutes Gerede. »Danke, ich habe zuviel Arbeit, um mitten am Tag spazierenzugehen.«
    »Redet doch nicht. Ihr schmollt wegen der Sache auf dem Marktplatz gestern. Aber Ihr werdet sehen, die frische Luft hilft,
     die Dinge klarer zu sehen! Ich warte hier, während Ihr Euren Mantel holt.«
    Ich habe längst Vorsorge getroffen, dachte Vizenz. Der Bote war schon unterwegs. Aber er schwieg und nickte. »Mei netwegen .« Lieber redete er im Wald als hier auf offener Straße. Der Engländer wollte anscheinend etwas loswerden.
    Bald stiegen sie Seite an Seite den Weg am östlichen Isarufer hinauf. Über die Kiesbänke unterhalb des Steilufers zogen Kalksteinsammlerinnen,
     gebückt, den Blick immer zu Boden gerichtet. Sie füllten ihre Säcke mit Steinen, die sie an die Kalkbrenner verkaufen würden.
    Am Leprosenhaus kamen sie vorüber. Hier lebten Aussätzige. Selbst für aussätzige Kinder gab es eine Stube. Sie kauften ihre
     tägliche Speise von Almosen, die aus dem ganzen Land herbeiflossen, zusammengebettelt durch unermüdliche Almosensammler.
    »Also, was haltet Ihr von diesem Amiel von

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