Das Mysterium: Roman
Ax?«
William Ockham sah hinüber. Auf den langen, vom Gesicht abstechenden Augenbrauen saßen Schneeflocken. »Eine interessante Quaestio.«
William nickte. »Wißt Ihr, ich reflektierte immer auch die Gegenmeinung und ihre Argumente. Häufig wird das mißverstanden,
weil die Leute denken, was ich sage oder schreibe, denke ich in jedem Falle selbst. Dann verteidige ich mich und erkläre,
ich sagte das in referierender Weise, ich trug eine Meinung vor, die andere haben, sei sie nun falsch oder |256| wahr, katholisch oder häretisch. Wie soll ich denn Argumente beleuchten, wenn ich sie nicht aussprechen darf?«
»Also seid Ihr zu Unrecht als Ketzer gebrandmarkt worden? In Euren Schriften stehen anderer Leute böse Worte?«
»Spart Euch Euren Spott. Ich stehe zu meinen Äußerungen.«
»Dann bekennt gerade heraus: Amiel ist eine Gefahr für die Stadt und das Kaiserreich. Seine Lehren vergiften die Vernunft.«
»Vernunft ist die Fähigkeit des Verstandes, Prinzipien zu erkennen und mittels ihrer Anwendung Schlüsse zu ziehen. Ein Beispiel.
Mein Tastsinn erfaßt, daß ein Topf warm ist. Daraufhin erkennt auch mein Intellekt, daß er warm ist und daß er andere Dinge,
die man ihm annähert, erwärmt. Ich erkenne also: Dieses Warme erwärmt. Nun erkennt die Vernunft das allgemeine Prinzip: Jede
Wärme erwärmt. Denn es gibt keinen Grund dafür, daß die eine Wärme Dinge erwärmt und die andere nicht.«
»Was hat ein Topf mit Amiel von Ax zu tun?«
»Er macht deutlich, warum die Antwort nicht einfach ausfällt. Der Topf ist ein leichtes Objekt für Schlußfolgerungen. Zumeist
werden aber zum Erkennen eines Prinzips viele Einzelfälle gebraucht, bevor eine Aussage mit Sicherheit getroffen werden kann.
Es ist nicht leicht zu wissen, daß dieses Kraut jenen Kranken heilt oder dieser Heiltrank jenen Kranken. Eine Wirkung kann
von verschiedenen Ursachen stammen.«
»Wollt Ihr nun antworten, William, oder nicht?«
»Was ich von Amiel von Ax halten soll, weiß ich wohl: Er ist ein boshafter Mensch, vielleicht ohne es zu wissen, aber er ist
boshaft.«
»Na also.«
»Die Frage ist, was ist mit seinen Lehren.«
»Ihr unterscheidet zwischen Ketzer und Ketzerei? Das ist absurd.«
»Wir müssen zunächst bedenken: Was spricht
für
die Lehren Amiels? Cluny beispielsweise spricht dafür, und seine Art, den Gottesdienst zu feiern – diese Art, die sich wie
ein |257| schweres, goldenes Tuch würgend über die Lande legt. Ich kann verstehen, daß das Volk es nicht mehr erträgt. Amiel hat recht,
wenn er nach einer Alternative strebt, die schlicht und nüchtern ist und die zum Ursprung des Christentums zurückkehrt.«
Vizenz ballte die Fäuste. Wie konnte der Engländer den Gottesdienst kritisieren, während Amiel von Ax Gefangenschaft und Sünde
und Lästerei unter die Menschen brachte? »Ihr geht auf dünnem Eis«, zischte er.
»Seht Ihr? Auch Ihr verkraftet es nicht, wenn ich Für und Wider abwäge. Es fällt den Menschen schwer, eine Frage wirklich
von allen Seiten zu beleuchten. Also gut, überspringen wir Amiels berechtigte Vorwürfe. Ein Aspekt, in dem er mit großer Sicherheit
irrt, ist die Selbsterlösung durch perfektes Verhalten. Pelagius war der Meinung –«
»Pelagius!« stieß Vizenz hervor.
»Ich sage doch nicht, daß ich mit ihm einer Meinung bin! Ich referiere nur seine Ansicht. Also, Pelagius lehrte, daß wir uns
göttliche Belohnung durch gute Taten verdienen können. Augustin hat dagegengehalten, und die Synode von Karthago im Jahr 418
hat ihm recht gegeben. Nicht wir selbst bauen uns eine Leiter zum Himmel hinauf. Gott hat die Leiter herabgelassen zu uns.
Jesus sagte es sehr deutlich: Ich bin der Weg!«
Es war seltsam. Auf verschlungenen Wegen gelangte William Ockham zum Kern der Dinge, und plötzlich benannte er ihn so klar,
wie Vizenz es seit Jahren in Kirchenkreisen nicht mehr erlebt hatte. Ehrfurcht keimte in ihm auf, Ehrfurcht für diesen Häretiker,
der ohne zu zögern dem Weg seiner Gedanken folgte.
William schwang den Fäustling vor seinem Bauch hin und her, als rede er von einer Kanzel herab. »In gewissen Gedankenschritten
kann ich Amiel verstehen. Alles ist von Geburt an auf die eigene Vervollkommnung ausgerichtet. Das Kind will lernen, der Erwachsene
will reifen, der Alte will die Dinge mit seinem Verstand durchdringen. Und doch: Etwas kann nur dann unser Verdienst sein,
wenn es in unserer Macht |258| steht. Gottes Liebe zu uns steht aber
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