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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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machen gegenüber der Inquisition und damit abhängiger
     von seiner Gunst. Er meinte wohl, auf sich allein gestellt würde Nemo ihr niemals entgehen können. Er kannte nicht Nemos Fähigkeiten.
    Stufe für Stufe ging Nemo die Treppe hinunter und dachte dabei nach. Ohne Zweifel stand ein großer Kampf bevor, an dessen
     Ende der Perfectus untergehen mußte. Oder die Stadt München. Vorher mußte er verschwunden sein, mit dem
Depositum
, das ihn auf die Fährte seiner Eltern leiten würde.
    Er hatte lange genug versucht, es als Amiels Diener an sich zu bringen. Zum Teil verstand er sogar Adelines Verrat. Es war
     Zeit, daß er sich verwandelte. Es mußte eine gewagte Verwandlung sein, eine, die so unmöglich war, daß sie selbst den Perfectus
     täuschte.
     
    Die Tore des Augustinerklosters waren verschlossen. Auf dem Weg durch das Eremitenviertel sah Nemo nicht einen einzigen der
     schwarzen Mönche. Hatte der Prior dem Konvent befohlen, heute den ganzen Tag im Kloster zu bleiben? Ein Menschenhaufen stand
     an der nördlichen Ecke des Klosters. Als |249| Nemo sie passierte, drehte sich einer der Männer nach ihm um. »Keine Büßerkreuze, recht so!« rief er. »Dein Mut steht dir
     gut zu Gesicht, Bursche.«
    Eine Frau sagte: »Wenn jemand büßen sollte, dann Vizenz Paulstorffer. Einen Heiligen zu verurteilen! Sag deinem Herrn, daß
     wir zu ihm stehen.«
    »Die Kirche geht den Bach runter«, sagte ein Dritter. »Erst wollen sie uns die Gottesdienste verbieten, und jetzt das. Sollen
     wir ewig nur schweigen?«
    »Ich verstehe euch«, murmelte Nemo und ging weiter. Er besah den Blutfleck an seinem Ärmel. Amiels Blut. Er hatte dem Perfectus
     die Wunden gewaschen, nun sollte er Heilkräuter kaufen beim Apothekarius. Amiel hatte ihm acht Silberpfennige mitgegeben dafür.
     Nemo würde nicht zurückkehren. Amiel mußte glauben, er habe sich mit dem Geld aus dem Staub gemacht. Die Verurteilung durch
     die Inquisition machte eine Flucht verständlich. Wer würde an seiner Stelle nicht ebenfalls Angst verspüren? Glaubwürdig zu
     verschwinden gehörte zu einer gelungenen Verwandlung.
    Was mochten die Mönche von der Lage halten? Er sah an der Brücke hinauf, die den alten Stadtgraben und die Mauer überspannte.
     Aus dem Abort fiel Kot herab und platschte in den Graben. Daß sie sich im verborgenen hielten, verhieß nichts Gutes. Offenbar
     waren auch sie überzeugt davon, daß eine dunkle Zeit anbrach für die Stadt.
    Die Luft war stumpf. Es roch nach Schnee. Ob jeder Mensch dachte, er lebe in ungewöhnlichen Zeiten? Konnte es schon einmal
     Jahre gegeben haben, die so erschreckend gewesen waren wie diese? Amiel hatte eine große dunkle Pauke geschlagen. Spürbar
     drang ein Unglück herauf.
    Die Büsche in der Gartensiedlung waren mit Reif bedeckt. Alles Leben zog sich zurück vor dem Winter. Spatzen saßen mit aufgeplustertem
     Gefieder in den kahlen Obstbäumen und tschilpten. Eines Tages würde das Häusermeer bis hierher wuchern und die Gärten verdrängen,
     die sich in den Schatten der neuen Stadtmauer duckten.
    |250| Selbst das Neuhauser Tor glänzte von Reif. Man hatte davor Sand auf den Weg gestreut. Unter dem Sand funkelte schwarz eine
     Eisfläche. Nemo ging zwischen den zwei Flankentürmen hindurch in den Wehrhof. Hier hatte der älteste Stadtbüttel bereits den
     Wolfstisch aufgebaut. Felle lagen darauf und blutverschorfte Köpfe erlegter Wölfe. Ein Bauernjüngling legte gerade ein Bündel
     zwischen sie, schnürte es auf. Der Büttel zog drei tote Wolfswelpen heraus. Für jeden jungen Wolf, den man am Neuhauser Tor
     ablieferte, gab es vierundzwanzig Pfennige Lohn, für jeden Kopf eines alten Wolfes zehn Pfennige. Vergangenes Jahr, so hatte
     Nemo gehört, waren insgesamt hundertvierundsechzig alte und zweiundsiebzig junge Wölfe abgeliefert worden. So versuchte die
     Stadt, die Rudel fernzuhalten, die mit dem hereinbrechenden Winter ihre Kreise immer enger um die Stadtmauern zogen und Mensch
     und Vieh anfielen.
    Er unterquerte den Haupttorturm. Am Zolltisch vor der Stadt blies sich der Zöllner warmen Atem in die geröteten, frierenden
     Hände. Hier wurde das Salz verzollt, das auf Packpferden und in Wagen über den alten Hallweg von den Salzbergwerken, Salzbrunnen
     und Pfannstätten der Voralpen durch Bayern nach Schwaben und Franken gebracht wurde. Er hatte sich einmal als Salzhändler
     verstellt und eine große Lieferung verkauft, die es überhaupt nicht gab. Nemo bog von der Straße ab. Über

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