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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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er entblößte seine Hilflosigkeit. Vizenz versagte, genauso, wie
     er im Kampf gegen Amiel versagt hatte.
    Er schwieg den Rest des Weges und ließ den Engländer reden. Als sich der Gelehrte vor der Inquisitionskanzlei verabschiedete,
     murmelte Vizenz: »Ad Deum« und schloß rasch die Tür hinter sich.
     
    »Ich bin hier, um mich zu verabschieden, Mutter.« Schneeflocken glitzerten auf Adelines blauem Mantel. Sie wollte sich nicht
     hinsetzen. Sie wollte die Handschuhe nicht ausziehen. Im Grunde war sie gar nicht mehr in der Stadt, sie war bereits auf der
     Flucht, fort von dem Ort, an dem Amiel von Ax, der Verruchte, lebte.
    »Kind!« Die Mutter stellte sich vor die Tür, wie um ihr den Weg zu versperren. »Wo willst du hin?«
    »Ich weiß nicht. Nach Flandern. Nach England. Je weiter weg, desto besser.«
    Der schiefe Mund der Mutter wurde ernst und schmal. »Was ist passiert?«
    »Nichts. Es war schön, daß wir noch in der Kirche die Weihnacht feiern konnten, Mutter. Wie jedes Jahr, der Siebenundzwanzigste,
     der Weinkrug und die alten Segenssprüche, ›trinke die Stärke des heiligen Stephanus‹. Daran habe ich mich von Herzen erfreut.
     Aber nun muß ich gehen.«
    »Was ist passiert?«
    |261| »Mutter, ich möchte nur Lebewohl sagen, nichts weiter, ich möchte nicht mit dir streiten. Es ist alles bestens. Ich gehe einfach
     fort von hier.«
    »Vor wem läufst du davon?«
    Die Mutter kannte sie besser, als sie gedacht hatte.
    »Ist dir klar, daß du nicht in England oder Flandern ankommen wirst? Daß du in den Tod gehst? Wo willst du schlafen? Wo willst
     du dich aufwärmen? Kind, es schneit da draußen. Es ist dunkel und kalt, und du hast nichts zu essen.«
    Adeline setzte sich an den Tisch. Sie zögerte kurz, dann zog sie doch die Handschuhe aus. »Warst du Anfang der Woche auf dem
     Marktplatz?«
    »Zwei Ketzer wurden verurteilt. Ich habe es zufällig bemerkt, weil ich einen fertig geflickten Rock ausliefern mußte. Aber
     ich stand weit hinten, viel gesehen habe ich nicht.«
    In der Kate war es kalt. Eigentlich konnte sie die Handschuhe wieder anziehen. Man sah den eigenen Atem als weiße Wolke vor
     dem Mund. »Der ältere, Amiel von Ax. Er will mich töten. Er hat schon einmal gemordet, kaltblütig und grausam. Genauso wird
     er es bei mir tun.« Warum erzählte sie das? Was ging das die Mutter an?
    »Er wurde doch als Ketzer bestraft. Die Städtischen kümmern sich um ihn.«
    »Nein, Mutter. Sie kriegen ihn nicht zu fassen. Er will mich vernichten, und er wird es schaffen. Ich tue seit einer Ewigkeit
     kein Auge mehr zu.«
    »Mädchen.«
    Adeline sah auf. Es war dasselbe ausgeblichene Kopftuch, dieselbe schiefe Nase, derselbe schiefe Mund. Dennoch erschien ihr
     die Mutter plötzlich stark.
    »Komm her«, sagte die Mutter.
    Was meinte sie damit?
    Sie breitete die Arme aus und sagte noch einmal: »Komm her.«
    Adeline erhob sich. Sie ging auf die Mutter zu. Da griffen schon Mutters Arme nach ihr und zogen sie heran. Sie strichen |262| ihr über den Rücken, als hätten sie Übung darin, als hätten sie nie etwas anderes getan.
    Die Mutter umarmte sie.
    Sie standen lange so. Adeline schluckte. Spürte die Mutter, was ihr das bedeutete?
    Die Mutter nahm Adeline bei den Schultern und sah sie an. »Ich verstehe, daß du weglaufen willst. Aber weißt du auch, was
     du hier verlierst? Deine Anstellung am Kaiserhof, dein warmes Bett, Lohn und Brot. Du wirst das nie wieder zurückbekommen.
     Wenn du deine Reise überlebst, wirst du enden wie ich. Schau mich an! Ich bin krumm und fast zahnlos. Ein Hutzelweib bin ich.
     Deine Rente bewahrt mich vor dem ärgsten Hunger. Aber ich sitze in dieser dunklen Hütte und nähe mir die Finger wund, und
     es ist feucht und kalt und stinkt. Willst du so werden wie ich?«
    »Mutter, Amiel von Ax ist zu stark! Nicht einmal die Wachen des Kaisers können mich vor ihm beschützen.«
    »Dann sag es dem Kaiser.«
    Adeline befreite sich aus dem Griff der Mutter und ging auf die andere Seite des Tischs. Sie konnte die Nähe nicht mehr ertragen.
     Etwas Kaltes brach in ihr auf. »Man merkt, daß du den Hof nicht kennst. Nicht einmal die Prinzessinnen und Prinzen können
     zum Kaiser gehen, wann sie wollen. Auch nicht Wilhelm, der wißbegierige Bengel, obwohl es heißt, daß Ludwig ihn abgöttisch
     liebt. Anna und Elisabeth schon gar nicht. Was meinst du, wie oft die ihren Vater sehen, wie oft er Zeit für sie hat? Kaum
     einmal im Jahr. Und da soll ich, ein schlichtes

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