Das Mysterium: Roman
Pergament hervor. »Ich weiß nicht, was
es ist.«
Er nahm das Pergament, es war dick, offenbar umschloß es einen Brief oder so etwas. Er faltete es auf. Zwei Pergamentstücke
fielen heraus und landeten im Schnee. Er bückte sich danach. Es waren die beiden Teile des
Depositums
. Warum gab er sie ihm? Auf dem Pergament, das sie umschlossen hatte, stand:
Sie wird mir nicht vergeben können. Ich wünschte, ich hätte sie anders behandelt. Dein Name ist Gebuin. Dieses Vermögen
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sollte nicht ich erhalten, sondern du. Nimm es. Ich weiß, daß ich mich auf dem falschen Weg befinde. Es ist zu spät. Sei du
klüger.
Amiel
»Ich heiße Gebuin«, sagte er. »Gebuin.« Er schmeckte das Wort im Mund. Es war das schönste Wort auf Erden. »Gebuin«, flüsterte
er. In diesem Namen schien die Liebe seiner Eltern zu stecken. Sie mußten ihn geliebt haben. Sie hatten sich die Mühe gemacht,
einen Namen für ihn auszuwählen! Er stellte sich vor, wie seine Mutter nach der Geburt zärtlich sagte: »Wir nennen ihn Gebuin.«
Er stutzte. »Was ist mit ihm passiert? Warum gibt er dich plötzlich frei und sendet mir das, wonach er die ganze Zeit gejagt
hat?« Er schüttelte den Kopf. Er verstand es nicht.
»Heute nacht geschieht etwas. Er hat gesagt, daß alles neu beginnt.«
»Komm.« Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich. »Im Hundehaus wartet die Schimmelstute.« Hundehaus! Er sah sich um. Keine
Spur von der Bracke. Der Hund war verschwunden.
Zwei Kerzen brannten auf dem Lesepult und ließen die Pergamentseiten warm leuchten. Der Duft von altem Leder stand in der
Luft, ein Duft, der ihm das Gefühl gegeben hatte, zu Hause zu sein, wo immer auch er ein Buch aufschlug. William atmete den
Ledergeruch ein und wartete. Der Duft wirkte nicht. Die Unruhe blieb. Er hatte sich den
Baum der Wissenschaft
des Raimundus Lullus von den Augustinern geliehen, Prior Konrad forderte das Buch sicher bald zurück, es war Zeit, daß er
es las. Konnte das Lesen nicht helfen, ihm Frieden zu verschaffen? Er strich mit dem Daumen über das weiche Pergament und
las ein Stück. Raimundus erklärte den Aufbau eines Baums, Wurzeln, Stamm, Äste, Blätter und Früchte, ein jedes mit ausführlichen
Erläuterungen.
Er schloß die Augen. Der Dominikaner würde weitere Menschen verbrennen. Schon jetzt trieb die Münchner die Angst um. Sie hielten
Gott für ein grausames, rachsüchtiges Wesen. |417| Was sollte er dagegen tun, ein exkommunizierter Franziskaner, der mit Mühe der lebenslangen Klosterhaft entkommen war, wie
man sie Michael von Cesena auferlegt hatte?
Widerwillig kniete er sich vor sein Bettlager. Er faltete die Hände, atmete langsam aus. »Gott, mein Vater, ich fühle mich
unfähig, etwas gegen das große Unglück zu unternehmen, das über diese Stadt hereingebrochen ist. Ich habe es versucht! Ich
habe mich Amiel entgegengestellt. Ich habe sogar mit dem Dominikaner gestritten. Mehr kann ich nicht tun, oder? Wenn du dennoch
eine Aufgabe für mich hast –« Er stockte. »Wenn du eine Aufgabe für mich hast, zeige sie mir.«
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Er riß die Augen auf. Es war ihm, als habe Gott höchstpersönlich an seine Tür
geklopft. William hielt den Atem an. Ihm rauschte das Blut in den Ohren. War das die Antwort, so rasch? Er erhob sich, es
knirschte in den Knien dabei. Zögerlich ging er zur Tür. Was, wenn niemand dort stand? Oder wenn es ein Engel war? Er zog
den Riegel beiseite, öffnete.
Venk von Pienzenau sah ihn an. Seine pockige Nase war gerötet, und der Mund mit den eingekniffenen Ecken war spröde geworden
vom Frost. Er sagte: »Darf ich eintreten? Ich muß mit Euch sprechen.«
»Natürlich.« Er ließ ihn ein. »Ihr seht durchgefroren aus. Da, setzt Euch auf die Truhe und streckt die Füße zum kleinen Ofen
hin, so mache ich das immer. Eure Zehen sind bald wieder warm.«
Venk blieb stehen. »William, ich habe einen großen Fehler gemacht.« Sein Blick war starr und leblos. »Die letzten Stunden
bin ich durch die Stadt gelaufen und habe darüber nachgedacht, wem ich mich offenbaren kann, und es seid mir nur Ihr eingefallen.
Wißt Ihr, was in den Straßen los ist?«
»Nein.«
»Die Münchner rotten sich zusammen. Amiel hat das von langer Hand vorbereitet. Er hat dafür gesorgt, daß sie sich bewaffnen
und bereithalten. Heute nacht übernimmt er die Stadt.«
|418| »Der Perfectus ist hier?«
»Er hatte sich in einer Köhlerhütte im
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