Das Mysterium: Roman
Bottich über und tanzten darum herum.
Starke Arme umklammerten ihn. Es war, als würde sich eine Eisenspange um seinen Körper schließen, mit dem Ziel, alles Leben
herauszupressen. Der Rübenkuchen fiel zu Boden. Nemo wollte schreien, aber heraus kam nur ein Ächzen. Der eiserne Griff drückte
alle Luft aus seinen Lungen und gestattete ihm nicht, neuen Atem zu schöpfen. Er wurde in eine Seitengasse gezerrt, kämpfte
dagegen an. Die Atemnot drohte ihm die Besinnung zu rauben. Er trat um sich, versuchte, seine Arme zu befreien. Der Peiniger
besaß unbezwingliche Kraft. Sein Griff wurde noch fester. Etwas knackte. Ein rasender Schmerz schoß Nemos Rücken hinab.
Er sah eine Kutte. Sie gehörte zu Amiel von Ax. Der Fremde gab ein Zeichen, und man ließ ihn los.
Er sank zu Boden. Keuchte. Bei jedem Atemzug stach ihn der Rücken, als steckte eine Klinge darin.
»Das nennt man, das
melioramentum
zu vollziehen«, sagte Amiel. »Indem du vor mir kniest, erkennst du meine Stellung an. Nun neige dreimal den Kopf zu meinen
Händen und küsse sie.«
Hinter Amiel stand der Schatten seines Peinigers an der |101| Wand, breit, mächtig. Noch einmal in seinen Todesgriff zu geraten würde sein Ende bedeuten. Er küßte Amiel von Ax die rechte
Hand. Sie war warm und weich.
»Sage nun:
Benedicite, parcite nobis
.
«
Er verlangte, daß er ihn um Segen bat? War er ein Geistlicher? Gehörte er einem Orden an? Er sagte:
»Benedicite, parcite nobis.«
Die Antwort erfolgte in fremder Sprache.
»De dieu las aiatz e de nos.«
Amiel machte ihm ein Zeichen, daß er aufstehen sollte. »Du bist mir nachgelaufen. Sicher möchtest du mir sagen, daß dir eingefallen
ist, was deine Eltern dir gegeben haben.«
Wußte er auch diesmal, daß er ihn angelogen hatte? Nemo sah sich nach dem Peiniger um. Ein Glatzkopf. Wo hatte er ihn schon
einmal gesehen? In den Gewölben beim Talburgtor? Doch, kein Zweifel. Er hatte ihn in den Gewölben gesehen. Der Glatzkopf arbeitete
als Fleischhacker bei den Schlachtbänken. »Nein«, sagte er, wieder zu Amiel hingewandt, »ich wollte nur noch einmal nachfragen,
ob Ihr das Amberkraut getrocknet oder frisch benötigt, der Apothekarius wollte das von mir wissen, und ich habe es nicht entscheiden
können.« Dieser Schmerz beim Atmen!
Amiel musterte ihn. »Du bist durch und durch ein Lügner. Das erste, was du mir an der Lände gesagt hast, war eine Lüge, und
seitdem kriechen nur falsche Krötenworte aus deinem Mund. Du hast nicht alles erzählt, dessen du dich erinnerst.«
»Doch, alles«, beteuerte er.
»Wenn du dich an mich hältst, Nemo, kann deine Seele befreit werden. Aber wie soll ich dir vertrauen?« Er griff sich an den
Gürtel und zog ein zusammengefaltetes Stück Pergament hervor. »Beweise, daß du auf meiner Seite stehst. Bringe dem Gelehrten
William Ockham diesen Brief. Nur ihm persönlich gibst du das Pergament, niemandem sonst, hast du mich verstanden? Er soll
es lesen und gleich darauf vor deinen Augen verbrennen.«
»Aber die Wachen, wie soll ich in den Kaiserhof –«
|102| »Vor mir wirst du in Zukunft kein Schauspiel mehr spielen. Hast du mich verstanden? Ich weiß, wer du bist. Es ist für dich
keine Schwierigkeit, irgendwo hineinzugelangen, und wenn es der päpstliche Palast ist! Du bist der gerissenste Betrüger weit
und breit. Und du hast auf dem Fest mit William Ockham gesprochen. Also wird es dir ein zweites Mal gelingen. Geh und tue,
was ich dir aufgetragen habe.«
Die ersten Regentropfen landeten auf Amiels Gesicht. Er streckte die Hände aus und fing den Regen darin auf. Er fiel hinein
wie kleine Küsse. Der Regen war sanft. Eine Fürsorge des Himmels? Er ballte die Hände zu Fäusten. Die Künste des Bösen waren
verführerisch. Nichts an dieser Welt war gut.
Die Gänseblümchen am Straßenrand hielten ihre halbgeschlossenen Blüten dem Regen hin, unwillig und doch notgedrungen fügsam.
In einer Seitengasse sah er Mädchen, die das Herbstlaub zu Häusergrundrissen zusammengefegt hatten und darin spielten.
»Kommst du in die Küche, Liebster?« rief eines.
»Gleich«, antwortete das andere.
»Ich habe Tauben für dich gekocht.«
Diese Stadt war gefährlich für ihn. Der Böse hatte das Schlachtfeld gut vorbereitet. Er versuchte, ihn von seiner Aufgabe
abzulenken. Er ließ seine Dämonen tanzen.
Amiel zog die Kutte am Hals zusammen. Er dachte an Frankreich, an das Jurastudium in Toulouse. Damals hatte er Gesindearbeiten
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