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Das Mysterium: Roman

Das Mysterium: Roman

Titel: Das Mysterium: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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anschließend in einer Pfütze rein gebadet. Als sie zur Welt kam, war ihre Mutter siebzehn Jahre alt und
     der Vater auf Gesellenreise gewesen. Damals wußte |170| noch niemand, daß er nicht nach München zurückkehren würde. Trotzdem sagten die Großeltern: Laß es wegmachen! Bring es nicht
     zur Welt!
    Aber Adeline war störrisch, sie ließ sich nicht wegmachen. Sie kam zur Welt. Die Mutter pflegte sie, damit die Nachbarn nicht
     schlecht von ihr dachten. Die Haare wurden durchgefilzt mit dem Kamm, so hart, daß sie büschelweise ausrissen. Eiserne Haarspangen
     steckte die Mutter ihr an. Sie schabten über die Kopfhaut wie scharfe Nägel. Adeline wurde herumgestoßen, gescholten, mußte
     stundenlang am Tisch sitzen, vor einer Speise, die sie nicht herunterbrachte.
    Heute ist alles anders, sagte sie sich. Mutter hat sich geändert. Und der Mörder findet mich hier nicht. Sie straffte ihre
     Haltung. »Komm, Knochen«, sagte sie. Der Hund stand auf, schüttelte sich.
    Sie klopfte an die Tür. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Mutter Stopfpilz und Nadel beiseite legen, sah sie aus dem Stuhl
     sich aufrichten, am Tisch abgestützt, und zur Tür humpeln. Sie zählte die Schritte. Sie hörte den Riegel, und das Gesicht
     der Mutter erschien im Türspalt.
    Mutter trug das Kopftuch, das einst mit Blumen bestickt gewesen war. Heute war es kaum noch ein grauer Fetzen, die Farben
     ausgeblichen, die Ränder zerfranst. In ihrem Gesicht war nichts gerade. Der Mund schief, die Nase schief, der Scheitel schief.
     Nur die Augen waren die einer jungen Frau. »Adeline!« Sie lächelte. Drei Zähne waren noch vorhanden.
    Wie alt ist sie jetzt? fragte sich Adeline. Siebenunddreißig?
    »Komm rein! Wie schön. Du warst lange nicht da.« Sie öffnete weit die Tür. Eine dicke Katze entwich und rannte davon. Knochen
     sah ihr nach, rührte sich aber nicht vom Fleck. Die Stube schien ihn mehr zu interessieren. Er ging hinein, schnüffelte in
     den Ecken.
    Sie trat ein. Die Stube sah aus wie immer: Der große Eichentisch, die Zinnschüsseln auf dem Bord und der große Wasserkrug,
     Mutters Bett. Sie hatte immer bei der Mutter im Bett geschlafen, und doch war es Mutters Bett und sie nur Gast |171| darin gewesen. Die Kleidertruhe schien geschrumpft zu sein. War sie nicht wenigstens halb so groß wie der Tisch gewesen? Aber
     der zerkratzte Deckel war derselbe. Über der Feuerstelle hing der Kupferkessel, der Boden schwarz vom Ruß.
    »Setz dich!«
    Sie gehorchte. Wieviel Zeit hatte sie an diesem Tisch verbracht, kurz davor, sich zu erbrechen. Warum war sie so schwierig,
     was das Essen betraf? Sie konnte keine Holzlöffel mit Suppe zwischen die Lippen führen, es jagte ihr Schauer über den Rücken,
     wenn sie das rauhe Holz spürte. Überhaupt mußte sie bei Suppen alles ausspucken, was faserig und hart war. Sie konnte es nicht
     schlucken. Fleischstücke untersuchte sie zwischen den Schneidezähnen auf Sehnen oder Fettbrocken oder Knorpel und fingerte
     sie sorgfältig heraus. Einmal sollte sie Ziegenmilch trinken. Sie trank mit Widerwillen. Dann hatte sie plötzlich ein Ziegenhaar
     im Mund. Sie übergab sich vor Ekel. Seitdem hatte sie nie wieder Ziegenmilch angerührt.
    »Gut siehst du aus.« Die Mutter tätschelte ihr die Hand.
    Adeline wich ihrem Blick aus. »Seit wann hast du eine Katze?«
    »Ein halbes Jahr. Sie ist trächtig. Wenn es mit der Mäuseplage so weitergeht, bekomme ich zwei Pfennige für jedes Katzenjunge.«
     Mutter zog die Hand zurück. »Ich bin so froh, daß sie dich genommen haben. Wo wärst du heute, ohne deine Stelle als Kammermädchen?«
    Natürlich. Es war der einzige Glücksfall ihrer Familie. Für gewöhnlich bekamen nur Mädchen von Geblüt eine solche Stelle,
     damit sie im Dienst einer hochgestellten Adligen das gesellschaftliche Leben kennenlernten.
    »Und wer ist das?« Mutter bot Knochen ihre Hand dar, und er schnupperte daran. Sie streichelte ihm den Kopf. »Du bist ja ein
     Lieber. Und siehst so edel aus. Ein echter Kaiserhund?«
    »Ein echter.«
    »Hast du deine Angst vor Hunden überwunden? Du wirst |172| immer größer, Mädchen, und tapferer. Das Hofleben tut dir gut, nicht wahr? Diese Hütte hier wäre doch nichts mehr für dich.
     Und schau, ich sitze den ganzen Tag am hinteren Fenster und stopfe anderer Leute Sachen. Ich bin so froh, daß du ein besseres
     Leben hast.«
    »Ja.«
    »Und ohne deine Unterstützung wäre ich längst verhungert.« Sie lachte leise. »Auch das sollte man nicht

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