Das Nazaret-Projekt
aufsteigenden Flammenmeeres aus biblischem Zorn verbrannte fast die gesamte Trauer über den Tod des geliebten Bruders. Gabriel verspürte plötzlich eine schwere Hand auf seiner eingesunkenen Schulter, die Hand Gottes, aber als er seine Augen öffnete, sah er, dass diese Hand nur dem Sanitätsoffizier gehörte, einem Arzt und Psychologen, der sich besorgt über ihn beugte.
»Sir, möchten Sie, dass ich Ihnen eine Beruhigungsspritze gebe? Wie fühlen Sie sich? Wenn es Ihnen hilft, würde ich gerne noch ein wenig mit Ihnen reden. Was halten Sie von diesem Vorschlag, Commander?«
Der Mann wirkte sehr besorgt und mitfühlend, aber Mitgefühl war so ziemlich das Letzte, wonach Gabriels verdunkelte Seele verlangte. Die Idee der Rache hatte aber zu diesem Zeitpunkt noch keine Gestalt angenommen, deshalb konnte der Captain selbst nicht sagen, ob ihn oder seiner Seele momentan überhaupt nach irgendetwas verlangte. Wenn schon, dann nur nach Schlaf; nach abgrundtiefem, endlosem Schlaf. Also ließ er sich von dem Doktor eine Spritze verpassen und zu seinem Quartier begleiten, wo er sich unverzüglich zu Bett legte. Reden wollte er mit dem Seelenklempner aber kein einziges Wort und weinen konnte er ohnehin erst unter der Bettdecke, nachdem ihn der Arzt endlich alleine gelassen hatte. Irgendwann fiel er dann in den gnädigen Schlaf der völligen Erschöpfung.
*
Für Airforce-Commander Gabriel Landau war diese Katastrophe ein doppeltes Gottesurteil, mit dem er sich abzufinden hatte. Deshalb beschäftigte ihn fürderhin weniger der sowieso ziemlich unwahrscheinliche Aspekt seiner möglichen Heilung oder gar der Gedanke an den plötzlich greifbar gewordenen eigenen Tod, als vielmehr jene quälende Frage, warum der Allmächtige ausgerechnet seinen Bruder – und vor allem ihn – mit so einem Schicksal geschlagen hatte! Was wollte Gott ihm damit wohl zeigen? Wozu diese Prüfung? Wenn Gott gerecht war, wodurch hatte er als gewisslich gottesfürchtiger Mensch dann solch eine harte Strafe erwirkt?
Diese Frage, so schien es ihm, konnte niemand besser beantworten als Reverend Telly Suntide, das spirituelle Oberhaupt jener fundamentalchristlichen, allamerikanischen Kirchengemeinde, zu deren zahlreichen Mitgliedern Gabriel Landau schon seit geraumer Zeit zählte. Da der wackere Pilot nicht nur in die Kategorie der Vorzeige-Schäfchen einzuordnen war, sondern vor allem auch zum inneren Kreis seines hochgeheimen Ritterordens zählte, nahm sich Reverend Suntide sogar die Zeit für ein persönliches Gespräch unter vier Augen.
Das war eine Vorzugsbehandlung, die nicht jedem Mitglied der normalen Kirchengemeinde zuteil wurde. Nur die Angehörigen dieses inneren Kreises kannten das zweite, verborgene Gesicht und die vertieften, alttestamentarischen Lehren ihres religiösen Führers bzw. Predigers, dessen Obsession es war, als von Gott persönlich bestellter, spiritueller Großmeister eines hermetischen, christlichen Ordens die Idee von den Rittern der Tafelrunde zu neuem, möglichst machtvollem Leben zu erwecken.
Ein einziges, kurzes Gespräch mit dem Großmeister und Priester besaß vor Gott in etwa das selbe Gewicht wie zehntausend Vaterunser oder vergleichsweise hundert Beichtgänge inklusive priesterlicher Absolution. Eine zeitlich unbegrenzte, private Unterredung oder Belehrung unter vier Augen jedoch kam einer Erhebung in den spirituellen Adelsstand durch Gottes und Großmeister Suntides Gnaden schon bedenklich nahe! Der Priester sah die Mitglieder seines inneren, hermetischen Kreises gern als Kämpfer und Soldaten, als die wahren Tempelritter Gottes.
Weil Berufssoldaten nun mal meistens einen Prediger bevorzugten, der ihrem Handwerk wohl gesonnen war, befanden sich naturgemäß zahlreiche Armeeangehörige in seiner fundamentalistisch ausgerichteten Loge. Es galt, die Religion und die Werte des Abendlandes gegen die überhandnehmenden Machtansprüche der islamischen Welt zu verteidigen – dass dieses Abendland trotz andauernder Blüte längst dem Untergang geweiht war, wollte weder Reverend Suntide noch der überwiegende Rest der Amerikaner und deren Verbündete vollständig wahrhaben, obwohl sich der Lebensstandard der ganzen westlichen Welt in den vergangenen Jahren bereits dramatisch verschlechtert hatte.
In stereotyper Wiederholung jeder beliebigen Religionsgeschichte wähnte sich Suntides Kongregation im alleinigen Besitz sowohl der göttlichen Gnade und seines Wohlgefallens als auch der ultimativen Wahrheiten. Eine dieser
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