denn deine Mutter?» Ich erzählte, meine Mutter sei gestorben, als ich vier Jahre alt war. Dass unser gemeinsamer Vater sie umgebracht hatte, verschwieg ich allerdings. Das war nichts für die Ohren einer Neunjährigen.
«Sie ist jetzt dein Schutzengel und behütet dich vom Himmel aus», sagte Vanamo lächelnd. «Wenn deine Zeit gekommen ist, gehst du zu ihr. Über den Tod braucht man nicht traurig zu sein. Im Himmel ist es besser als hier.»
Ich hatte nur genickt. Zum Glück war die Religion, der Vanamos Familie anhing, von der sanften Art, zumindest hatte man dem Kind nicht mit dem Höllenfeuer Angst eingejagt. In ihrem Himmel war auch Platz für Tiere, dort spielte Frida mit Onkel Jari. Daran konnte ich nicht glauben, aber ich hatte nicht das Recht, über Vanamos Glauben zu spotten – und auch nicht den Wunsch. Wenn sie trotz der schlimmen Ausgangssituation eine glückliche Kindheit verlebte, umso besser. Jetzt wartete Vanamo ungeduldig auf den Sommer, dann würde sie mich in Helsinki besuchen. Ich hatte versprochen, sie in den Zoo Korkeasaari, in den Vergnügungspark Linnanmäki und auf die Festungsinsel Suomenlinna zu führen. Vanamo war noch nie weiter verreist als nach Kuopio und glaubte, der dortige Aussichtsturm sei das höchste Gebäude der Welt. Ich versprach, ihr Fotos von den Wolkenkratzern in New York zu zeigen.
Ich wusste nicht einmal, ob meinem Vater bekannt war, dass er noch eine zweite Tochter hatte. Hatte er sich überhaupt gefragt, was aus dem Mädchen geworden war, das er vergewaltigt hatte?
Ich hatte das Protokoll über die Ermittlungen zu Onkel Jaris Tod in Hevonpersii gelassen. Jetzt hätte ich es gern noch einmal gelesen. Hatte mein Vater ein Alibi für die Todeszeit? Wieso hatte die Polizei ihn nicht verdächtigt, Onkel Jari ermordet zu haben? An den Namen des Polizisten, der mir telefonisch die Todesnachricht übermittelt hatte, erinnerte ich mich noch, er hatte Niilo Rämä geheißen. Auf der Webseite der Polizei von Kuopio fand ich ihn nicht, doch ich beschloss, einfach mein Glück zu versuchen, und schickte eine Mail an die Adresse
[email protected]. Ich schrieb, ich sei die Nichte von Jari Ilveskero und denke immer noch über die Umstände seines Todes nach. Meiner Meinung nach sei es vielleicht doch kein Unfall, sondern Mord gewesen, mein Vater habe sich ja zur fraglichen Zeit auf der Flucht befunden. Er hatte damals bereits seinen Namen geändert, vielleicht war der Polizei seine Verwandtschaft mit Onkel Jari entgangen. Aber Mord verjährt nicht, und wenn mein Vater Onkel Jari umgebracht hatte, sollte er es büßen. Wenn er mittlerweile als zurechnungsfähig galt, konnte man ihn vielleicht für den Mord ins Gefängnis bringen. Ich hatte mitunter den Verdacht gehabt, dass er den Verrückten nur spielte und geschickt genug war, sogar die Sachverständigen zu täuschen.
Vorläufig konnte ich nichts weiter tun, als zu warten, und das entsprach nicht meinem Temperament. Mike Virtue hatte meine Ungeduld immer wieder getadelt.
«Liebe Hilja, unsere Aufgabe besteht darin, Gefahrensituationen zu verhindern. Wir haben erfolgreich gearbeitet, wenn nichts passiert, wenn niemand unser Objekt angreift.»
Mir war nie klargeworden, wo Mike selbst ausgebildet worden war. In der Broschüre der Sicherheitsakademie Queens hieß es zwar, er habe für das FBI gearbeitet, aber ich wusste nicht, weshalb er dort ausgeschieden war und die Akademie gegründet hatte. Charles Davis, der Lassomeister unseres Jahrgangs und ein unverbesserlicher Witzbold, hatte Mike vorgeschlagen, ein Buch über seine Lehren zu veröffentlichen. In dem Klima der Angst, das nach 9 / 11 herrschte, hätte es sich gut verkauft, doch Mike hatte den Vorschlag zurückgewiesen.
«Ich kann am besten im persönlichen Kontakt unterrichten, wenn ich die Reaktionen meines Publikums sehe. Und ich will meine Methoden nicht der ganzen Welt verraten, dann wüssten unsere Gegner ja, wie wir denken, und das wäre ein Risiko.»
Falls ich tatsächlich mit Julia nach New York reisen musste, würde ich Mike besuchen. Ich war bis auf weiteres die einzige finnische Kursteilnehmerin, und der Frauenanteil insgesamt lag nur bei zwanzig Prozent, daher glaubte ich, dass er sich an mich erinnern würde. Eigentlich war ich sogar überzeugt, dass er keinen einzigen der Leibwächter vergaß, die er ausgebildet hatte, sondern sich die Stärken, Schwächen und psychischen Bruchstellen jedes Einzelnen eingeprägt hatte. Er hatte gesagt, er lerne