Das Nest des Teufels (German Edition)
ahnte nicht, dass die Geste nicht tröstend gemeint war, sondern meiner Sehnsucht nach David entsprang.
Die Bretter des Tanzbodens lagen bloß, jemand hatte den Schnee weggeschaufelt. Es war schwer zu glauben, dass hier vor drei Monaten ein Mensch getötet worden war. Juri umklammerte meine Hand immer fester. Plötzlich ertönte hinter uns Musik. Aus dem Nebengebäude kam ein Mann, der auf einer fünfreihigen Ziehharmonika die Säkkijärvi-Polka spielte.
«Auf zum Tanz! An so einem schönen Tag. Oder können junge Leute nicht mehr Polka tanzen?»
«Was sagt er?», fragte Juri verblüfft.
«Wir sollen tanzen.»
«Ein Tanz auf dem Grab», sagte Juri düster, und ich begriff, dass es eine dumme Idee gewesen war, ihn an den Tatort zu führen. Der Ziehharmonikaspieler trat zu uns und fragte auf Englisch, ob wir Touristen seien.
«This very famous Finnish song»
, fügte er hinzu. Ich hatte kein Recht, ihn wegzuschicken, so gern ich es auch getan hätte. Also wanderten Juri und ich den Hügel hinunter zu dem Weg, der an das alte Windmühlenufer führte. Wir hielten uns immer noch an den Händen, obwohl es so noch schwieriger war, auf den Schneeschuhen vorwärtszukommen.
«Denk an die Waffe», erinnerte ich Juri, als wir den Weg erreichten und die Schneeschuhe auszogen. «Du solltest sie bald besorgen, dann kann Reiska sie zu Laitio bringen. Wirst du in nächster Zeit mit Syrjänen nach Russland fahren?»
«Dazu brauche ich nicht ins Ausland zu reisen. Ich habe auch in Helsinki Kumpel, die mir eine Waffe liefern können. Ich soll sie also bezahlen?»
«Ein kleiner Preis für deine Freiheit. Und wenn du es dir leisten kannst, einen Jaguar zu fahren, wirst du wohl einen Revolver kaufen können.»
«Muss er sich wirklich erschießen? Es gibt doch andere Methoden.»
«Für einen Polizisten ist das ein ehrenvoller Abgang. An einer Kugel sterben, die Zigarre im Mund.»
Es war, als hätte Laitio geahnt, dass wir über ihn sprachen, denn gerade in dem Moment schickte er mir eine SMS .
«Ich habe Eini nachforschen lassen. Die verrückten Psychiater haben beschlossen, deinem Vater Hafturlaub zu geben, damit er probieren kann, wie die Freiheit schmeckt. Zu Ostern ist er draußen.»
11
Ich holte erschrocken Luft, was Juri natürlich nicht entging.
«Was ist?»
«Eine Nachricht über meinen Vater. Man will ihn in Urlaub schicken. Der erste Schritt zu seiner Freilassung.»
«Er sitzt ja auch schon seit einer Ewigkeit im Gefängnis. Seit Jahrzehnten.»
«Nicht im Gefängnis, sondern im Irrenhaus. Er ist ein gefährlicher Psychopath und sollte bis an sein Lebensende hinter Gittern bleiben.»
«Hast du Angst?»
«Nicht um mich. Ich kann mich verteidigen. Was haben Julia und Syrjänen an Ostern vor? Da werde ich nämlich in Tuusniemi gebraucht.»
Dass mein Vater in der Anstalt Niuvanniemi in Kuopio und nicht in Turku behandelt wurde, bedeutete, dass er als unzurechnungsfähig eingestuft worden war. Jetzt behaupteten die Psychiater wahrscheinlich, er sei durch die Medikamente stabil. Aber was, wenn er vergaß, seine Medikamente zu nehmen?
«Nicht um dich? Um wen denn dann?», fragte Juri.
«Um seine Angehörigen. Seine Schwestern leben noch», antwortete ich rasch.
Wir schlugen den Weg ein, der ans Ufer führte. Auf dem Parkplatz stand ein Wagen, hoffentlich hatte sein Besitzer den Grillplatz nicht in Beschlag genommen. Auf dem windstillen Weg war es bereits so warm, dass ich die Mütze abnahm und den Anorak öffnete. Juri setzte die Sonnenbrille ab und polierte sie. Der Grillplatz war leer, es roch nach Wurst, und die Kohle glühte noch. Ich brauchte nur ein paar kleine Scheite nachzulegen, schon flammte das Feuer wieder auf.
«War deine Mutter so wie du?», fragte Juri unvermittelt.
«So wie ich? Ich erinnere mich kaum an sie. Sie war wohl ein fröhlicher Mensch, mochte Kinder und wollte Grundschullehrerin werden. Sie war also das genaue Gegenteil von mir», grinste ich, obwohl in meinem Innern ein Sturm tobte. «Ich bin eher die Tochter meines Vaters als meiner Mutter.»
«Aber sie hat starke Gefühle geweckt, genau wie du.» Juri hatte die Handschuhe ausgezogen und strich mir nun mit den Fingern über die Wange. In seinen Augen lag eine ähnliche Glut wie damals, als er mir bei der Eröffnung des Sans Nom begegnet war.
«Wenn Laitio tot ist, wissen nur noch du und ich, wer Martti Rytkönen getötet hat», fuhr er fort. «Nur du und ich, Hilja. Dieses Wissen verbindet uns. Ich bin in deiner Macht. Genießt du
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