Das Nest
käme.«
Plötzlich richtete Mrs. Crabtree ihren Blick auf Lindsay. Sie musterte sie von oben bis unten, ganz so, als nähme sie ihr Vis-à-vis zum ersten Mal tatsächlich wahr. Irgend etwas an Lindsay schien ihr schließlich vertrauenerweckend genug.
»Mein Mann war ein Mensch, der es genoß, von seiner Macht über andere Menschen Gebrauch zu machen«, erklärte sie nach einer Pause. »Es war ihm wichtig, auch in weniger bedeutenden Angelegenheiten die Dinge unter Kontrolle zu haben. Es gab nichts, was Rupert mehr Spaß machte, als den Leuten irgendwas diktieren zu können – ob es sich jetzt um einen Einspruch bei einem Verkehrsvergehen handelte oder um die Frage, wie sie ihr gesamtes Leben gestalten sollten.«
»Selbst wenn man über soviel persönlichen Charme verfügt wie mein Mann, ist das nicht unbedingt ein Charakterzug, der besonders viele Sympathien erweckt. Miss Gordon, viele Leute hatten gute Gründe, ihn nicht zu mögen. Vielleicht hat Rupert schließlich jemanden zu weit getrieben…«
»Können Sie sich jemand bestimmten vorstellen?« fragte Lindsay sachlich, und unterdrückte ihr Erstaunen über Mrs. Crabtrees offenes Eingeständnis. Sie wollte sich diese Chance auf keinen Fall entgehen lassen.
»Die Frauen im Friedenscamp natürlich. Er war fest entschlossen, den Kampf gegen sie fortzuführen, bis auch die letzte vertrieben worden wäre. Er betrachtete es nicht nur als eine Kampagne, die politischen Druck erzeugen sollte. Er sah es als seine Mission an, jede einzelne sowie die Gruppe zu bekämpfen, sie fertigzumachen. Besonders verärgert war er über die eine, die sein Nasenbein gebrochen hatte. Er meinte, er würde keine Ruhe geben, bis sie im Gefängnis säße.«
»Wie haben Sie über diese Mission Ihres Mannes gedacht? Hatte sie irgendwelche Auswirkungen auf Sie?« tastete Lindsay sich weiter.
Mrs. Crabtree zuckte die Schultern. »Ich hielt es für richtig, etwas dagegen zu unternehmen. Diese Frauen haben keine Moralvorstellungen. Sie bringen sogar ihre Kinder mit, die dann unter diesen gräßlichen Bedingungen leben müssen. Keine Mutter, die auch nur eine Spur von Verantwortungsbewußtsein besitzt, würde so etwas tun. Nein, Rupert hat recht gehabt. Schließlich sind die Raketen zu unserem Schutz hier. Und dieses viele Plastik ist ja auch so ein trauriger Anblick.«
»Hat Ihr Gatte viel Zeit damit zugebracht?«
»Ziemlich viel. Aber ich habe versucht, es nicht übel zu nehmen, da es für eine gute Sache war.« Mrs. Crabtree sah weg und fügte hinzu: »Es hat ihm wirklich großen Spaß gemacht.«
»Gab es noch jemand, der vielleicht ein Motiv hatte?«
»Ach, ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung, wer aus beruflichen Gründen etwas gegen Rupert gehabt hat. Aber wahrscheinlich sollten Sie noch mit William Mallard reden. Er ist der Kassenwart von Steuerzahler gegen die Zerstörung Brownlows. Er und Rupert lagen sich wegen irgendwelcher Finanzgeschichten in den Haaren. Und er wird Ihnen auch mehr über Ruperts Beziehungen zu anderen Leuten in der Gruppe erzählen können. Es gibt da einen Mann, der vor ein paar Wochen hinausgeworfen wurde, und soviel ich weiß, steckte Rupert dahinter. Leider kenne ich keine Einzelheiten. Hilft Ihnen das weiter?«
»Aber ja. Ich brauche ein so umfassendes Bild, wie nur irgend möglich. Ihr Gatte war offensichtlich ein in der Gemeinde sehr aktiver Mann.«
Emma Crabtree nickte. Lindsay meinte, einen ironischen Zug in ihrem Lächeln zu entdecken. »Das war er wirklich«, pflichtete sie bei. »Dieser Umstand war kaum zu übersehen. Und trotz seiner Fehler hat Rupert viel für das Gebiet getan. Er war sehr gut im Umsetzen von Ideen. Opposition ließ er keine zu. Mein Mann war ein sehr entschlossener Mensch. Das Leben wird viel ruhiger sein ohne ihn.« Zum ersten Mal war ein bedauernder Tonfall in ihrer Stimme.
Lindsay brütete über dem Gesagten. Es schien der Zeitpunkt gekommen, wo es jetzt oder nie hieß für die harten Fragen. »Und ist seine Entschlossenheit auch im Familienleben zum Ausdruck gekommen?« fuhr sie fort.
Mrs. Crabtree betrachtete sie nachdenklich. »In mancher Beziehung«, antwortete sie vorsichtig. »Er wollte unbedingt verhindern, daß die Kinder verwöhnt wurden. Sie sollten sich zuerst beweisen, bevor sie von ihm finanzielle Hilfe erwarten durften. Rosamund hat drei Jahre in Restaurant- und Hotelküchen gearbeitet, erst dann bekam sie genug Geld geliehen, um einen eigenen Betrieb zu eröffnen. Danach hat Simon diese
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