Das Nest
nicht, daß du gehst. Ich brauch’ dich hier. Ich brauche deine Hilfe. Es ist absolut schaurig, allein mit dieser Situation fertig werden zu müssen. Ich sitze hier zwischen allen Stühlen. Auch mir vertraut in Wirklichkeit niemand. Weißt du, ich bin halt das kleinere Übel, sowohl für die Frauen als auch für die Polizei. Und wenn du gehst, steh’ ich total isoliert da.«
Cordelia starrte zu Boden. »Du bist nicht isoliert, Lindsay. Wenn du in das Plenum hineingehst, wirst du nicht gedemütigt werden wie ich. Bei diesen Frauen genügt es nicht, das Herz am rechten Fleck zu haben. Du mußt auch die richtigen Referenzen mitbringen. Ihnen paßt meine Nase einfach nicht.«
»Darum geht es gar nicht, Cordelia. Du darfst jetzt nicht abhauen, nur weil es einmal einen Streit gegeben hat.« Lindsay packte Cordelia impulsiv an den Schultern und zog sie an sich. »Verlaß mich nicht. Nicht jetzt. Ich fühle… ich weiß nicht, ich fühl’ mich nicht sicher hier ohne dich.«
»Das ist absurd«, antwortete Cordelia, deren Stimme durch Lindsays Jacke gedämpft klang. »Hör zu, ich fahr’ zurück nach London und stürz’ mich in irgendeine Arbeit. Ich bin nicht sauer auf dich. Ich habe nur beschlossen, mich mit diesen Frauen nicht ausschließlich zu deren Bedingungen einzulassen. Verstehst du? Also vergiß nicht, ich möchte wissen, wo du bist und was du tust. Ich mach’ mir Sorgen um dich. Dieser Kuhhandel, den du mit Rigano abgeschlossen hast, könnte wirklich gefährlich werden. So viele potentielle Interessenskonflikte – die Frauen, die Polizei, deine Zeitung. Du solltest doch aus Erfahrung wissen, daß im Dreck schaufeln bei einem Mord eine Menge Gefahren mit sich bringt. Sei vorsichtig. Ich glaube auch, du wirst mit den Frauen besser zurechtkommen, wenn ich nicht dabei bin. Aber wenn du mich wirklich brauchst, ruf mich an – ich komm’ dann raus und nehm’ mir ein Hotelzimmer oder sowas.«
Lindsay nickte und sie umarmten sich. Danach löste Cordelia sich und stieg ins Fahrzeug. Sie ließ den Motor ein paarmal aufheulen und glitt dann die Landstraße hinunter, einen schlammigen Sprühregen und Streifen weißer Auspuffgase hinter sich zurücklassend. Lindsay stand da und starrte dem Wagen nach, auch als er schon längst nicht mehr zu sehen war. Irgendwann drehte sie sich um und ging langsam zum Versammlungszelt zurück.
Sie schlug die Plastikplane, die als Tür diente, zurück und blieb stehen. Deborah sprach gerade. Lindsay hörte zu. Dann beschloß sie, das für Deborah zu tun, was jemand mit etwas Verstand und Sensibilität für Cordelia hätte tun sollen.
Deborah faßte ihren Standpunkt zusammen: »Wir haben hier nichts zu verbergen. Und Lindsay haben wir gebeten, das zu beweisen. Aber sie kann nicht alles allein machen. Wenn sie uns um Mithilfe bittet oder jemand anderes aus diesem Grunde schickt, sollten wir vielleicht vergessen, daß wir alle Prinzipien haben, die heilig sind, oder Verdächtigungen, von denen wir uns nicht trennen wollen. Sonst sind wir womöglich noch genauso schlimm wie die auf der anderen Seite dieses Zauns.«
Lindsay blickte sich um in dem Gedränge aus Frauen und einigen kleinen Kindern. Die Verschiedenheit der Kleider und Haarschnitte löste einen verwirrenden Angriff auf ihre Sinne aus. Die warme dampfige Luft roch nach Körper und Zigarettenrauch. Die Frau, die diesmal als erste das Schweigen brach, war Irin. Lindsay glaubte, daß sie Nuala hieß.
»Ich denke, Deborah hat recht«, erläuterte sie mit ihrer sanften Stimme. »Und ich meine auch, daß unsere Verhaltensweise von vorhin unfair war. Nur weil jemand die Konventionen des Camps gebrochen hat, ist das noch lange kein Grund, feindlich zu reagieren. Wenn wir es nicht schaffen, auch Außenseiter hereinzulassen, um mit uns zusammenzuarbeiten, dann seh ich schwarz, wenn’s einmal hart auf hart geht, was die Raketen betrifft. Vergessen wir doch nicht, warum wir wirklich hier sind. Es macht mir nichts aus, Lindsay alles zu erzählen, was ich über diesen Mord weiß. Ab etwa zehn Uhr war ich mit Siobhan und Marieke in meinem Zelt. Wir schrieben alle Briefe bis ungefähr zwölf, dann gingen wir schlafen.«
Das öffnete die Schleusen. Die meisten Frauen akzeptierten die Logik von Nualas Worten, und die anderen ließen sich schließlich widerwillig zur Kooperation überreden. Die nächsten paar Stunden verbrachte Lindsay damit, die Schritte der siebenundvierzig Frauen aufzuzeichnen, die sich vergangene Nacht im Camp
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