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Das Nest

Titel: Das Nest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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feinen Abgang. An diese Arroganz sollte sie noch erinnert werden.
    Reif für die Übernahme durchs Großkapital, dachte Lindsay beim Betreten des George Hotels. Die Kombination von vergilbtem Fünfziger-Jahre-Dekor und einzelnen Zitaten der Moderne wirkte nicht sehr geglückt. Sie konnte sich die dazugehörigen Shrimpscocktails und Filetsteaks gut vorstellen. Eine Neonleuchtschrift, die nach einem Museumsstück aussah, zeigte die Treppe hinauf zum Aufenthaltsraum. Oben stieß Lindsay die knarrende Schwingtür auf. Die Sitzgelegenheiten sahen billig und unbequem aus und der einzige Anwesende war gerade damit beschäftigt, sich Kaffee einzuschenken. Lindsays Hoffnungen sanken. Bei Riganos Annahme, daß sie hier ungestört sein würden, hatte es sich offensichtlich um eine Fehleinschätzung gehandelt: Der junge Mann mit den langen Beinen, die aus einem Polstersessel neben dem Kaffeetisch ragten, wirkte ganz und gar nicht wie ein Bauer namens Carlton Stanhope.
    Er trug enge Blue Jeans, Reitstiefel und einen handgestrickten Wollpulli. Sein glattes brünettes Haar war seitlich kurz, im Nacken etwas länger geschnitten und fiel ihm in dünnen Fransen in die Stirn. Er sah keinen Tag älter als fünfundzwanzig aus. Er warf Lindsay, die zögernd in der Tür stand, einen Blick zu und näselte: »Setzen Sie sich, Miss Gordon, und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir, bevor er kalt wird.«
    Als er ihre Überraschung bemerkte, grinste er boshaft. »Nicht was Sie erwartet haben, hm? Sie dachten, ein Fordhamer Bauer, der Carlton Stanhope heißt und ein Kumpel von Rupert Crabtree war, muß einfach ein alter Fuchs im Tweedsacko, mit rotem Gesicht und einem Glas Scotch in der Faust sein, geben Sie’s zu! Tut mir leid, Sie zu enttäuschen. Jack Rigano hätte Sie wirklich warnen sollen.«
    Lindsays Ausdruck schwankte zwischen finster und lächelnd. Sie setzte sich, während Stanhope ihr einschenkte. »Sagen Sie schon etwas«, frotzelte er. »So atemberaubend bin ich doch auch wieder nicht, oder?«
    »Ich bin überrascht, es mit jemandem unter fünfzig zu tun zu haben, das stimmt schon. Darüber hinaus hält sich meine Verblüffung aber doch eher in Grenzen. Laufen heutzutage nicht alle jungen Bauern in diesem Aufzug herum?«
    »Hui, das war ein Treffer«, antwortete er. »Und da auch Sie weder meinen Vorstellungen von einer Journalistin noch von einer Friedensaktivistin entsprechen, sind wir meiner Ansicht nach quitt. Sie sehen, Miss Gordon, wir gemäßigten Männer sind genauso oft die Opfer stereotyper Vorurteile wie Sie radikale Feministinnen.«
    Lindsay bemerkte eine gewisse Ablehnung, die sein Verhalten bei ihr auslöste. Offensichtlich hielt er sich für einen äußerst begehrenswerten jungen Mann. Daß er sich über seine äußeren Reize hinaus bemühte, unterhaltsam zu sein, rechnete Lindsay ihm hoch an. Und obwohl sie sein Benehmen eher nervend als anziehend empfand, war ihr völlig bewußt, daß es sicher genügend Bewunderinnen dafür gab. »Kommissar Rigano meint, Sie könnten mir einiges an Hintergrundinformationen über Steuerzahler gegen die Zerstörung Brownlows verschaffen.«
    »Jack sagt, Sie arbeiten an einer Kriminalreportage über Ruperts Tod. Anscheinend hält er es für zweckmäßig, Sie bei den Ermittlungen an seiner Seite zu haben, und da bin ich jetzt wohl die Gegenleistung dafür«, stellte er richtig fest.
    »Ich möchte mich für Ihre Unterstützung bedanken«, betonte sie. »Sicher haben Sie gerade Wichtigeres zu tun – Gerste säen, oder was Bauern halt so machen im März.«
    »Kleinen Lämmern beim Geborenwerden helfen, falls es Sie wirklich interessiert. Aber ich kann Ihnen versichern: Es ist mir ein Vergnügen. Also, was wollen Sie wissen?«
    »Ich interessiere mich für den Steuerzahler-Verein. Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen?« erkundigte sich Lindsay. Sie griff nach ihren Zigaretten und bot Stanhope eine an. Er verzichtete mit einer Handbewegung und begann mit seiner Erzählung.
    »Ja, wie war das denn… es muß kurz nach der Gründung gewesen sein. Vor sechs oder sieben Monaten, würde ich sagen. Ich war erst vor kurzem wieder in die Gegend zurückgekommen. Mein Vater beschloß, mit dem anstrengenden täglichen Kleinkram aufzuhören, der zur Führung eines Bauernhofs gehört. Also hat er von mir verlangt, daß ich meinen Job bei der Forstkommission sausen lasse und mich um meinen zukünftigen Besitz kümmere. Das heißt, um das, was die Bank und der Finanzminister davon übriglassen. Auf

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