Das Nest
sie anscheinend kein Alibi hat: Sie war zu ehrlich überrascht, als ich das von der Waffe erzählte.« Sie machte eine Pause, um ihre Gedanken zu ordnen.
»Weiter«, drängte Deborah.
»Nummer fünf: Carlton Stanhope. Alexandra hat ihm sicher von Crabtrees Reaktion berichtet. Vielleicht ist ihm die Idee gekommen, daß es nicht allzu intelligent wäre, einen Kerl vom Kaliber Crabtrees zum Feind zu haben und daß sogar ein Mord besser sein könnte als dieser Zustand. Oder er hat geglaubt, daß die einzige sichere Methode, Alexandra zu bekommen, darin bestand, den Gegner auszuschalten. Hängt davon ab, wieviel ihm an Alexandra liegt. Ich muß sagen, in seinem Fall geht mein Vorurteil in die entgegengesetzte Richtung: Er war mir reichlich unsympathisch, und ein Alibi hat er auch nicht. Schließlich wären da noch unsere beiden Hübschen vom Steuerzahler-Verein. Im Wissen um Crabtrees Gerechtigkeitsanspruch hätte Mallard sich überlegen können, daß eine Beseitigung der Anschuldigungen von Seiten des Vorsitzenden nur durch eine Beseitigung des Vorsitzenden selbst garantiert sei. Und Warminster klingt verrückt genug, um vor Gewalt als Mittel für seine Machtübernahme im Verein nicht zurückzuschrecken. Was meinst du, Debs?«
Deborah dachte einen Augenblick lang nach. »Die Frage, wer überhaupt Gelegenheit zu dem Mord hatte, hast du unter den Tisch fallen lassen. Aber das ist dir wahrscheinlich ohnehin klar?«
»Hier handelt es sich um ein mittleres Problem, das auch die Polizei beschäftigt. Vielleicht kann ich Rigano davon überzeugen, daß es nur im Interesse seiner Untersuchungen liegt, wenn er mir diese Info gegen meine wertvollen Erkenntnisse zusteckt. Und nach einer kurzen kosmetischen Behandlung aus meiner genialen Feder hält er es wirklich noch für ein faires Geschäft.«
»Du hast mich ausgelassen auf deiner famosen Liste. Ich sollte drauf sein.«
Lindsay lachte. »Obwohl du’s nicht warst?«
»Aufgrund der Fakten weißt du das nicht. Du bist dir nur deshalb so sicher, weil du meine Geschichte kennst und weil wir wieder miteinander schlafen. So schlecht ist die Theorie gar nicht, daß ich dich verführt habe, um deine Verdachtsmomente zu zerstreuen und dich zu meiner Verteidigung auf meine Seite zu kriegen. Und deshalb solltest du mich nicht weglassen, bis meine Schuldlosigkeit bewiesen ist.«
Lindsay starrte sie entsetzt an. »Das würdest du nie tun!«
»Möglicherweise schon. Wenn ich jemand anders wäre.«
»Also gut«, räumte Lindsay schwach lächelnd ein. »Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie du Rupert Crabtree so in Angst und Schrecken versetzt hast, daß er einen Revolver zur Selbstverteidigung mit sich herumschleppte. Er muß einen Angriff auf sein Leben befürchtet haben.«
»Oder er hat vorgehabt, die Person, mit der er sich traf umzubringen.«
Von der überwältigenden Logik dieses Einwandes unvorbereitet getroffen, warf Lindsay Deborah einen raschen Blick zu. Sie zwang sich, die neue Einsicht der Freundin ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
Schließlich hatte sie ihre Antwort parat. Sie sprach zunächst in einer Art defensiver Haltung, wurde jedoch immer überzeugter, je näher sie Camden Town kamen. »Siehst du«, schloß sie, »er hatte kein Motiv, dich zu ermorden. Die Rache war ihm ohnehin sicher – vor Gericht.«
Deborah überlegte. Als sie langsam auf Rubinröte zusteuerten, warf sie Lindsays Hypothese über den Haufen. »Nicht unbedingt«, erwiderte sie nachdenklich. »Alle halten ihn für einen Mann mit Sinn für Fairneß. Als Anwalt sollte er auch die Gesetze achten. Wenn wir also annehmen, daß er sich nach dem Schock des Unfalls tatsächlich einbildete, ich hätte ihn angegriffen, dann hatte er allen Grund für seine ursprüngliche Anzeige bei der Polizei, die alles ins Rollen brachte. In der Zwischenzeit klärt sich sein Erinnerungsvermögen wieder etwas und er erkennt, daß er über die Hundeleine gestolpert ist und ich nicht das geringste mit dem Ganzen zu tun habe. Was sind also seine Alternativen? Er zieht seine Aussage zurück, wird einerseits zur Zielscheibe des Spotts und muß andrerseits mit allen möglichen Repressalien rechnen – von der Verleumdungsklage...«
»Üble Nachrede«, unterbrach Lindsay geistesabwesend.
»Okay, also von einer Klage wegen übler Nachrede bis zum Vorwurf, die wertvolle Zeit der Polizei vergeudet zu haben – und das alles hat er mir zu verdanken. Oder er leistet einen Meineid, was für einen Mann wie ihn
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