Das Nest
wahrscheinlich ebenso undenkbar erscheint. Durch dieses Dilemma gerät sein Selbstwertgefühl mit der Zeit immer mehr aus den Fugen und er beschließt, mich zu töten, und zwar so, daß er auf Notwehr plädieren kann. Er fängt an, mit der Waffe herumzuspazieren und wartet nur noch auf den richtigen Augenblick, in dem er mir allein begegnet. Denk darüber nach, Lin. Ah, wir sind da. Ran an die vollen Schüsseln!« Mit diesen Worten sprang sie aus dem Fahrzeug.
Auf dem Katzenkopfpflaster vor dem Restaurant holte Lindsay sie wieder ein. Das Lokal nahm das gesamte Erdgeschoß eines schmalen dreistöckigen Ziegelbaus ein und lag in einer schwach beleuchteten Seitengasse in der Nähe der mondänen Gegend rund um Camden Lock mit ihren Boutiquen, Bars und Marktständen. Links davon befand sich eine Schriftsetzerfirma, rechts ein Lager. Ein roter Ford Fiesta bog um die Ecke und beide Frauen traten einen Schritt zurück, um nicht gestreift zu werden, als er vorm Restaurant vorbeifuhr. Lindsay packte Deborah am Arm. »Als Theorie – brillant«, platzte sie heraus. »Aber menschlich betrachtet stinkt es zum Himmel. Du hast es nicht getan, Debs.«
Deborah grinste: »War ja nur ein Versuch.« Sie stieß die Tür auf und ging rasch hinein, um Lindsays Griff auszuweichen. Eine junge Frau samt stacheligem blondem Haarkamm trat auf sie zu.
»Hallo Lindsay«, sagte sie fröhlich zur Begrüßung. »Ich hab’ dir einen Ecktisch aufgehoben.«
»Danke, Meg.« Sie folgten ihr und Lindsay stellte vor: »Das ist Debs, Meg. Sie ist eine alte Freundin von mir.«
»Hallo Debs. Schön, dich kennenzulernen. Also dann. Hier sind Speise- und Weinkarten. Die Tagesspezialitäten findet ihr auf der Tafel, ja?« Und schon hatte sie sich wieder entfernt, eilte von Tisch zu Tisch, räumte Geschirr ab und plauderte die ganze Zeit auf ihrem Weg zu den Schwingtüren, die in die Küche führten.
Deborah sah sich um und registrierte die Maserungen im Kiefernholz, das Moosgrün an Wänden und Decke und die überdimensionalen Fotografien, die erwartungsgemäß von Virginia Woolf zu Virginia Wade reichten. Sie stellte fest, daß Besteck und Geschirr auf jedem Tisch verschieden war und anscheinend von Altwarenhändlern und Flohmärkten stammte. Die Hintergrundmusik identifizierte sie als leise Rickie Lee Jones. An den anderen Tischen saßen ebenfalls Frauen. »Ich kann mir dich und Cordelia gut hier vorstellen«, kommentierte Deborah schmunzelnd. »Äußerst luxuriöses Lesbendasein.«
»Jetzt hör schon auf und such dir was zum Futtern aus«, befahl Lindsay.
»Na warte«, drohte Deborah. Sie studierten die Speisekarten und entschieden sich für Avocado Rubinröte (Scheiben reifer Avocados auf Schnitten saftiger Passionsfrüchte, mit Kresse garniert und in Himbeersauce serviert), gefolgt von Butterbohnenschmaus (Butterbohnen geschmort in Zwiebeln aus biologischem Anbau, grünem Pfeffer und Schnittlauch, gehüllt in eine kräftige Käsesauce mit Vollkorngratinée und traditionellem Cheddar Käse vom Bauernhof) inklusive freie Salatwahl vom Büffet an der Rückseite des Raumes. Das Sortiment reichte von heimischen bis zu exotischen Sorten. Zum Trinken wählte Lindsay eine Flasche Ribiselwein.
»Mein Gott«, explodierte Deborah leise, als Meg mit der Bestellung verschwand, »mir war nicht klar, wie protzig gesund Essen sein kann. Hier ist alles so über der Höhe, Lin. Gibt es wirklich genug hundertprozentig hinter der vegetarischen Idee stehende Frauen, damit dieser Laden Gewinn abwirft?«
»Sei nicht so voreilig mit deinem Urteil. Das Essen ist wirklich ein Traum. Entspann dich und genieß es«, bat Lindsay.
Deborah deklarierte durch wildes Kopfnicken ihre leidenschaftliche Zustimmung und ließ sich bequem zurücksinken. »Und jetzt erklär mir«, verlangte sie, »wo du doch dauernd in diesem entzückenden Etablissement herumhängst: Wie kommt es, daß dich mit Ros Crabtree nicht die gleiche freundschaftliche Beziehung verbindet wie mit Meg?«
»Das ist sehr einfach. Meg rennt herum und serviert. Meg nimmt die telefonischen Reservierungen entgegen. Meg plaudert mit dir beim Kaffee. Ros hingegen schuftet fünf Nächte in der Woche in der Küche. Sie ist zu sehr mit Kochen beschäftigt, um sich auch noch um die Gäste zu kümmern. Kennen tut sie die Leute natürlich. Aber am Ende des Abends ist sie wahrscheinlich zu müde, um höflich Konversation zu betreiben. Für Vegetarier zu kochen, ist harte Arbeit. Butterbohnenschmaus braucht eben sehr viel mehr
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