Das Nest
mir darüber reden und meine Fragen beantworten? Für Debs wäre es sehr wichtig.«
»Mir fällt einfach nichts ein, was für euch von Nutzen sein könnte. Aber ich denke, ich schulde der Frau, die die kostbare Würde meines Vater angeknackst und sein Nasenbein gebrochen hat, etwas – was soll’s, fragt, was ihr wollt. Vielleicht antworte ich sogar.« Sie nahm einen großzügigen Schluck Brandy und machte einen ausgesprochen entspannten Eindruck.
»Die erwartungsgemäße Frage zuerst: Wo hast du dich Sonntag abend zwischen zehn und zwölf Uhr aufgehalten?« begann Lindsay.
»Ogottogott, wir haben uns also den ganzen snobistischen Krimischeiß hineingezogen, was?« Der Spott in Ros’ Stimme klang noch immer recht gutmütig, aber ihre Antwort machte klar, daß Lindsay ihre besten Chancen verspielt hatte. »Sonntag nacht war ich hier. Wir haben eine Wohnung über dem Restaurant. Ich glaube, es war elf, als ich mein Buch weglegte. Dann bin ich ins Bett gegangen und kurz nach Mitternacht wieder aufgewacht, als mich meine Mutter am Telefon über Vaters Tod informierte.«
»Sicher kann Meg das bezeugen?«
»Zufällig nicht. Meg befand sich auf dem Rückweg von Southhampton, wo sie ihre Eltern besucht hatte. Sie kam erst gegen halb eins heim. Was bedeutet, daß ich so gut wie kein Alibi habe, stimmt’s? Vor Mutter hat kein Mensch angerufen, und ich hab’ auch mit niemandem telefoniert. Ihr müßt mir schon glauben.« Sie grinste breit.
»Ich wundere mich, daß du nicht gleich, nachdem du die Nachricht erhalten hast, nach Brownlow hinuntergefahren bist. Ich meine, um deine Mutter zu trösten und so…?« bemerkte Lindsay betont lässig.
»Übermäßige Beiläufigkeit hat mich noch nie besonders beeindruckt, Süße. Die interessanten Fragen erkenne ich auch ohne vorherige Ankündigung hundert Meter gegen den Wind. Wieso ich nicht sofort nach Hause zu Mami rannte? Erstens habe ich hier ein Geschäft zu führen. Montags fahre ich immer auf den Markt und schaue mir das Angebot an. Auf dieser Basis, je nachdem was gerade gut aussieht, plane ich die Tagesmenüs der Woche. Auch die Buchhaltung und den Papierkram erledigen wir am Montag. Ich konnte es mir einfach nicht leisten, an dem Tag weg zu sein. Es wird schwierig genug sein, das Begräbnis unterzubringen. Das klingt jetzt sehr gefühllos, ist es aber nicht. Meinem Vater lag genauso viel an diesem Geschäft. Aber was noch wichtiger ist, ich bin mir absolut nicht sicher, ob ausgerechnet ich die richtige Person bin, meine Mutter zu trösten.«
»Wie das?«
»Weil ich nicht der gefühlsduselige sentimentale Typ bin. Ich bin viel zu nüchtern, um eine Schulter zum Ausweinen anbieten zu können. Ich fürchte, ich würde ihr viel eher raten sich zusammenzureißen, als sie mit Tee und Mitleid zu versorgen.«
»Mit der Haltung deiner Mutter zu der Tatsache, daß du lesbisch bist, hat das also nichts zu tun? Aber natürlich hat deine Familie nichts davon geahnt, nicht wahr? Jedenfalls glaubt das Carlton Stanhope. Weißt du, ich war immer der Meinung, daß Eltern viel mehr mitkriegen, als sie zugeben«, gab Lindsay zurück, den Blick in die entfernteste Ecke des Raumes gerichtet.
»Du hast mit Carl gesprochen?« Ros war plötzlich unsicher geworden.
»Er läßt dich herzlich grüßen. Zur Zeit ist er mit Alexandra Phillips zusammen«, antwortete Lindsay.
»Wie nett für ihn. Sie war immer ein sehr anziehendes Mädchen. Hoffentlich behandelt sie ihn besser als ich. Armer Carl«, erklärte sie zerknirscht. »Aber zurück zu deinem Gespräch mit ihm: Er hat schon recht, soweit ihm die Zusammenhänge klar sind. Sie wußten wirklich nichts. Ich hatte mir große Mühe gegeben. Die Geschichte spielte sich folgendermaßen ab: Nachdem ich sicher war, daß ich in die Gastronomie einsteigen wollte, riet mir mein Vater immer wieder dazu, ein eigenes Lokal aufzumachen. Vorher hatte ich natürlich die nötige Erfahrung sammeln müssen. Meg und ich arbeiteten einen richtigen Geschäftsplan aus, der sich auf die Kosten für die Miete stützte, und ich präsentierte ihn meinem Vater als eine gute Investition. Er lieh mir zwanzigtausend Pfund zum Nominalzinssatz, damit konnten wir das Projekt starten. Dazu wäre er nie bereit gewesen, wenn er auch nur etwas geahnt hätte. Wahrscheinlich sind sie nie draufgekommen, weil ich schon so lange von zu Hause weg war. Schließlich hab’ ich schon eine Weile studiert und gearbeitet, und wenn ich heimkam, gab es immer ein paar alte Freunde wie
Weitere Kostenlose Bücher