Das Nest
Irreführung sein… Eine einfache Antwort schien es nicht zu geben.
Der Umschlag, den sie eine Viertelstunde später vom Fordhamer Kommissariat abholte, enthielt die fein säuberlich mit der Hand geschriebene Adresse: Megamenu Software, Block 23, Harrison Mews, Fordham. Lindsay überflog das Straßenverzeichnis auf ihrem neu erstandenen Stadtplan. Harrison Mews gab es keine, aber im schäbigeren Teil des Ortes, in der Nähe des Industriegeländes, fand sie eine Harrison Street. ›Mews‹ stand womöglich für eine kleinere Seitengasse, ging es Lindsay durch den Kopf.
Sie legte den Gang ein und warf einen routinemäßigen Blick in den Rückspiegel. Das Ergebnis verursachte beinahe einen Unfall. Direkt hinter ihr wartete der rote Ford Fiesta, am Steuer der von ihr als Stapozist bezeichnete, nahezu ständig in ihrer Umgebung herumwuselnde Typ. Ohne Vorwarnung tauchte Lindsay blitzartig in den Verkehr ein, nicht ohne ihre mangelnden Ortskenntnisse gehörig zu verfluchen. Während sie sich auf den Weg durch das Stadtzentrum konzentrierte, spürte sie den roten Fiesta in ihrem Rücken und schließlich dämmerte ihr eine Erklärung für Riganos eigenartiges Verhalten am Telefon. Vielleicht war der Mann, der sich gerade so penetrant an ihre Fersen heftete, zum Zeitpunkt des Gesprächs bei Rigano gewesen? Was die noch verwirrendere Frage nach sich zog: Hatte Rigano sie zum Kommissariat gelockt, damit sich der Stapozist an ihre Fersen heften konnte? Und wenn, weshalb interessierte sich die Stapo für einen so alltäglichen Mord? Und, was noch wichtiger war, warum in Dreiteufelsnamen interessierten sie sich für sie?
Die Dichte des Verkehrs und die Suche nach ihrem Zielort zwangen sie, die Frage vorläufig zu verdrängen. Sie bog in eine Nebengasse ein, an der ein Schild mit der schlampigen Aufschrift: »Harrison Mews: Zu Megamenu Software« hing und registrierte, wie das rote Auto an der schmalen Auffahrt vorbeizuckelte. Sie stellte den Wagen gegenüber von Block 23 ab und überlegte. Wenn der Blonde bei der Stapo war, weshalb war der Fall dann einem uniformierten Beamten wie Rigano übergeben worden und nicht den unauffälligen Leuten von der Kripo. Aber angesichts der Überzeugung der tonangebenden Kreise im Land, daß es sich bei dem Frauencamp in Brownlow Common um ein von subversiven Mächten gelenktes Nest handelte, das über ausreichende Mittel verfügte, die gesamten westlichen Demokratien auszuhöhlen, erschien Lindsay das besondere Interesse der Staatspolizei für einen Mord, der seine Wurzeln im Camp zu haben schien, gar nicht so überraschend.
Lindsay stieg aus und sondierte das Gelände rund um Megamenu Software. Es sah wenig vertrauenseinflössend aus. Die doppelte Eingangstür war mit einem billigen Lack nachlässig gestrichen worden und fing bereits an abzublättern. Auf ihr befand sich ein großes Schild im selben Stil wie das zu Beginn der Gasse mit dem Vermerk: › Megamenu Software: Wir lassen Ihre Wünsche wahr werden.‹ Ein weites Betätigungsfeld für einen guten PR-Manager, dachte Lindsay zynisch, sollte das Budget je einen solchen Planposten ermöglichen. Aber als sie den Klingelknopf neben der kleinen in die beiden größeren Tore eingebauten Eingangstür betätigte, stellte sie einigermaßen verblüfft fest, daß in Fragen der Sicherheit keine Ausgaben gescheut worden waren. Trotz des ramponierten Anstrichs machten die verschiedenen Schlösser alle einen ausgesprochen zuverlässigen Eindruck, die Türen wirkten solide. Für weitere Spekulationen blieb keine Zeit: Simon Crabtree hatte sich im Eingang vor ihr aufgepflanzt.
Er runzelte die Stirn und fragte: »Was wollen Sie?«
»Auf ein paar Worte hereinschauen«, antwortete Lindsay. »Es dauert nicht lange, ich versprech’s.«
»Der Presse habe ich nichts zu sagen«, erwiderte er grimmig. »Sie haben meiner Mutter genug zugesetzt. Verdammte Geier.«
Lindsay lächelte müde. »Das Recht steht Ihnen zu. Aber ich bin nicht hier in meiner Rolle als verdammter Geier. Betrachten Sie mich als eine nach der Wahrheit Suchende. Ihr Vater ist ermordet worden, und die Polizei scheint ganz wild darauf, die Sache einer meiner ältesten Freundinnen in die Schuhe zu schieben. Ich weiß, daß sie’s nicht getan hat und versuche, Beweise dafür zu sammeln. Ich will ja nur ein paar Informationen.«
»Wieso sollte ich Ihnen helfen? Sie und Ihre verrückten Freundinnen gehen mich überhaupt nichts an.« Er war schon dabei, die Tür zuzumachen, aber Lindsay
Weitere Kostenlose Bücher