Das Nest
gern helfen, aber ich muß vorsichtig sein. Ich glaube, es sind schon zu viele Leute in die Geschichte verwickelt.«
»Was heißt denn das, Annie? So kannst du mich nicht abfertigen!«
»Tut mir leid. Ich hab’ schon zuviel gesagt. Lindsay ist da in was reingeraten, das eine Menge Unannehmlichkeiten nach sich ziehen kann. Ich hab’ ihr geraten, damit zur Polizei zu gehen. Vielleicht hat sie das getan.«
»Herrgott, Annie, was zum Teufel geht hier vor? Heißt das, sie befindet sich in Gefahr?«
»Mach dir keine Sorgen, Cordelia. Das kann ich mir keine Sekunde lang ernsthaft vorstellen. Sie wird sich melden. Vielleicht probiert sie’s jetzt gerade. Nimm’s nicht zu schwer. Lindsay ist die geborene Überlebenskünstlerin. Paß auf, ich muß jetzt aufhören. Sag ihr, sie soll mich morgen früh anrufen, ja?« Annies Tonfall war endgültig.
»In Ordnung«, erwiderte Cordelia kalt. »Wiederhören.«
Ihre Empörung über Annies Gleichgültigkeit hatte den heilsamen Effekt, daß sie begann, gegen ihre eigenen wachsenden Befürchtungen anzukämpfen. Sie nahm die geheimnisvolle Kassette an sich, zog Stiefel und Lammfelljacke wieder an und eilte die Treppe hinunter. Sie stieg in ihren BMW und reihte sich in den abendlichen Verkehr ein. Als sie die Autobahn erreicht hatte, stieg sie kräftig aufs Gaspedal und jagte los wie der Blitz. »Bitte, Du da oben«, sagte sie laut, »mach, daß ihr nichts passiert ist.« Aber Worte waren außerstande, die schrecklichen Vorstellungen zu verdrängen, was Lindsays alles zugestoßen sein konnte. Den Tränen nahe parkte Cordelia sich kurz vor zehn auf dem Parkplatz vor dem Fordhamer Kommissariat ein. Fest entschlossen, alles herauszufinden, was herauszufinden war, betrat sie das Gebäude.
Sie marschierte auf den diensthabenden Polizisten zu. »Ich muß mit Kommissar Rigano sprechen«, klärte sie ihn auf. »Es handelt sich um einen sehr dringenden Fall.«
Der Beamte betrachtete sie skeptisch. »Ich weiß nicht, ob er noch da ist, Miss«, versuchte er, sie hinzuhalten. »Wenn Sie mir erzählen, worum’s geht, kann ich Ihnen vielleicht auch bei Ihrem Problem helfen.«
»Weshalb überprüfen Sie nicht, ob er nicht doch noch da ist? Sie können ihm ausrichten, daß ich ihn wegen des Überfalls auf Deborah Patterson sprechen muß«, beharrte sie.
Den Mund vor Ärger verkniffen verschwand er hinter einer Trennwand aus Milchglas. Fünf Minuten später war er zurück und forderte sie widerwillig auf: »Wenn Sie mir folgen, bring’ ich Sie zum Chef.«
Rigano saß allein an seinem Schreibtisch und ging gerade einen Berg Akten durch. Die Linien in seinem Gesicht schienen tiefer als beim letzten Mal, und seine Augen umgaben dunkle Schatten. »Was ist los, Miss Brown? Kann Miss Gordon ihre Angelegenheiten nicht mehr selber erledigen? Oder will sie mir nur aus dem Weg gehen?«
»Ich hatte gehofft, Sie wären in der Lage, mir etwas über ihren Aufenthaltsort mitzuteilen«, formulierte Cordelia sorgfältig. »Anscheinend ist sie verschwunden, und ich war der Ansicht, daß so etwas Sache der Polizei ist.«
»Verschwunden? Wenn das stimmt, dann muß es aber vor sehr kurzer Zeit passiert sein. Bis etwa sechs Uhr war sie nämlich hier. Und das ist erst vier Stunden her.«
Cordelia kam sich auf einmal dumm vor. »Sie wollte um acht zu Hause sein. Bis neun hat sie nicht angerufen. Vielleicht finden Sie daran nichts Ungewöhnliches, aber Lindsay ist eine Pünktlichkeitsfanatikerin. Sie versäumt nie, mich zu informieren, wenn sie es einmal nicht zur vereinbarten Zeit schafft. Besonders nicht, wenn wir uns seit zwei Tagen nicht gesehen haben.« Fertige mich nicht als hysterisches Frauenzimmer ab, betete sie.
»Und Sie glauben nicht, daß Sie überreagieren?«
»Nein. Ich glaube, sie hat Informationen über den Tod von Rupert Crabtree und den Anschlag auf Deborah, die sie vielleicht in Gefahr gebracht haben. Ich habe Angst, Kommissar. Das ist mein Recht.«
Die Gefühlsregung ließ sein Gesicht einen Augenblick lang ganz weich aussehen. Aber seine Stimme blieb nüchtern. »Wissen Sie etwas über diese Informationen?«
»Keine Einzelheiten. Aber es scheint etwas mit einer Computeraufzeichnung zu tun zu haben.« Er nickte. »Na gut. Vielleicht sind wir ein bißchen voreilig, aber wir können trotzdem ein paar Nachforschungen anstellen.«
Sie erwartete, daß er sie entließ, um einen Untergebenen zu sich zu rufen, aber er nahm den Hörer ab und wählte eine auswärtige Nummer. »Mrs. Crabtree?«
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