Das Netz der Schattenspiele
Opfer eines dieser grausamen Verhöre, bei denen ein Mensch alles gestand, nur um von seinen Peinigern endlich in Ruhe gelassen zu werden? Allmählich kehrte die Erinnerung aus den Tiefen ihres Bewusstseins zurück.
Sie war durch Masinofs Straßen geeilt. Dem Lindwurm auf den Fersen, hatte sie zuletzt einen weißen Turm betreten und dort mit diesem Mitleid erregenden Kind gesprochen. Wie war noch sein Name gewesen? Brainar…?
»Brainar Chorus.«
»Sie hat etwas gesagt!«
Die Stimme ließ Stella zusammenfahren. Noch einmal versuchte sie die Augen zu öffnen. »Was… wo bin ich?«
Vor Stellas Gesicht bewegte sich eine große ovale Scheibe mit bunten Flecken darin. Nur sehr langsam verfestigten sich die unscharfen Konturen zu einem Gesicht. Gerade wollte sie mit dem Raten beginnen, um dem schillernden Antlitz einen Namen zu geben, als sich ein neues Gesicht zeigte.
»Vater?« Die Züge stimmten, aber weshalb trug er dieses fleckige lederne Wams? Hatte Salomon den Beruf gewechselt? War er unter die Schmiede gegangen oder verdiente er sein Brot jetzt gar als… Folterknecht?
»So hast du mich schon lange nicht mehr genannt, Sternchen. Was ist mit dir…? Nun komm schon, sag noch was!«
Stella antwortete mit einem Lallen, das nur der geübte Kryptologe mit viel gutem Willen in die Worte »Mir geht’s gut« auflösen konnte. Schon legte sich eine Hand auf Salomons Oberarm und schob dessen Körper zur Seite. Stella bekam einen Mordsschrecken. Vor ihr stand nun ein leibhaftiger Henkersknecht.
Die Gestalt war ganz in Schwarz gekleidet. Sie trug eine Lederweste und auf dem Kopf eine hohe spitze Tütenmütze, die bis zum Halsansatz herunterreichte und nur für Augen, Nase und Mund lächerlich kleine Öffnungen frei ließ.
Stella schrie und der Henker zog sich überraschend zurück, noch ehe er sich nach dem Befinden seiner Delinquentin hatte erkundigen können.
Salomons Stimme übernahm daraufhin wieder das Regiment. Außerhalb von Stellas Gesichtsfeld überschüttete er den Henker – der wohl nicht ganz zufällig den Namen DiCampo trug – mit einer solchen Flut von Verwünschungen, dass dieser offenbar schnell das Weite suchte.
»Du hast vier Stunden gebraucht, um aufzuwachen«, sagte Salomon, als er endlich wieder vor Stellas Augen erschien. »Wir bringen dich jetzt in dein Bett, und du ruhst dich aus.«
»Aber… ich…«
»Schon gut, Sternchen. Du hast dem Cyberworm-Team sehr geholfen. Wir wissen jetzt, was unser Schattenwort bedeutet.«
Das Gesicht Brainars schwebte wie ein Heliumballon durch Stellas Erinnerung. Sie wusste, dass es noch etwas zu sagen gab. Aber ehe es ihr gelang, verlor sie wieder die Besinnung.
»Ich bringe Sie ins Gefängnis, Sie verantwortungsloser Dreckskerl!«
DiCampo fuhr entsetzt zurück und der Rote John stellte sich schützend vor seinen Boss. Die stechende Junisonne heizte Marks Gemüt nur noch mehr auf und Agaf hatte alle Mühe, ihn von Tätlichkeiten gegen den Intruder-Projektleiter abzuhalten. Die Konfrontation spielte sich unmittelbar vor dem Truck ab, in dem die bewusstlose Stella unter Kimikos wachsamen Augen von Gwen und Dr. Gerrit versorgt wurde.
»Das alles ist ein furchtbares Missverständnis«, beteuerte DiCampo. »So beruhigen Sie sich doch endlich. Es gibt keine Zwischenfälle beim Intruder-Programm, die zu irgendeinem Zeitpunkt die Gesundheit oder gar das Leben der Cybernauten bedroht hätten. Irgendjemand muss Ihnen da einen Floh ins Ohr gesetzt haben.«
Mark wollte sich aber nicht beruhigen. Mit dem Zeigefinger stanzte er vor DiCampos Nase Löcher in die Luft; näher kam er seinem Erzfeind nicht, weil John McMulin ihm den Weg verstellte. »Ich glaube Ihren Unschuldsbeteuerungen nicht mehr, Doktor. Meine Tochter liegt immer noch in diesem Truck, obwohl Sie schon vor über vier Stunden die Aufwachprozedur eingeleitet haben. Als Stella dann kurz zu sich kam, hatte sie offensichtlich massive Halluzinationen. Daran ist nur Ihr NeuroBooster schuld.«
»Der NeuroBooster ist ein ganz und gar…«
Mark grinste wie ein Großwildjäger beim Anblick seiner Beute. DiCampo hatte sich verplappert. »Ja? Ich höre. Wollen Sie endlich zugeben, dass der NeuroBooster ein ›ganz und gar‹ gefährlicher Wirkstoff ist?«
Im Gegenteil, trumpfte DiCampo trotzig auf. Bei dem NeuroBooster handele es sich um ein harmloses NMDA-Rezeptor-Enzym. Die NMDA-Rezeptoren seien Schalter auf den Membranen der Neuronen, der Nerven- oder Pyramidenzellen, und steuerten die
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