Das Netz
setzte, waren Paula und Beaurain die einzigen verbliebenen Fahrgäste. Paula sah, wie draußen auf der Straße alte Frauen, die sich in dicke Schals gehüllt hatten, schwere Plastiktüten mit ihren Einkäufen nach Hause schleppten und dabei vornübergebeugt gegen den eisigen Wind ankämpften. Langsam begann es dunkel zu werden.
»An der nächsten Haltestelle steigen wir aus«, sagte Beaurain. »Wir müssen dann zwar noch ein Stück zu Fuß gehen, aber dabei können wir wenigstens die Gegend sondieren, was mir nach unserem Empfang am Hauptbahnhof ziemlich angeraten erscheint...«
Um sich gegen den eiskalten Wind zu schützen, band sich Paula ihren Wollschal um den Kopf, so wie sie es bei den alten Frauen gesehen hatte. Beaurain wartete, bis die Straßenbahn abgefahren war, und sah sich dann nach allen Seiten um.
»Glauben Sie, dass noch mehr passiert?«, fragte Paula.
»Das wäre durchaus möglich. Vielleicht hat ja jemand über Handy durchgegeben, welche Straßenbahn wir genommen haben.«
»Und wer sollte das sein? Die beiden in der Limousine waren dazu bestimmt nicht mehr in der Lage.«
»Sie vergessen den Mann im Zug. Der hat vielleicht alles mit angesehen und danach irgendwo Bescheid gegeben. Sehen Sie das Haus da vorn? Dort wohnt und arbeitet Murano.«
Hier, am Ende der Straße, gab es weniger Geschäfte und so gut wie keine Fußgänger, lediglich auf der Straße fuhren noch viele Autos. Beaurain deutete auf ein seltsam aussehendes Gebäude, das ein Stück in die Straße hineinragte. Es war aus großen, grauen Steinquadern erbaut, besaß eine breite, zweiflügelige Eingangstür und im Dach eine Fledermausgaube. Beaurain drückte auf den Klingelknopf neben der Gegensprechanlage, aus der kurz darauf eine Stimme in leicht italienisch gefärbtem Englisch ertönte: »Ich habe Sie schon kommen gesehen, mein lieber Jules. Drücken Sie gegen den rechten Türflügel. Und dann steigen Sie die Treppe hinauf bis ins Dach. Die Tür schließt sich automatisch hinter Ihnen...«
»Ziemlich still hier in der Gegend«, meinte Paula.
»Ein wenig zu still für meinen Geschmack«, sagte Beaurain.
Hintereinander durchquerten sie eine kleine Empfangshalle und stiegen dann eine Wendeltreppe mit Steinstufen empor. Im Dachgeschoss angekommen, wurde ihnen die Tür geöffnet, und sie betraten ein großes Zimmer mit Steinfußboden und schrägen Wänden. Beaurain winkte Paula herbei und stellte sie dem Mann vor, der in der Mitte des Raums stand.
Mario Murano war klein und untersetzt. Er hatte braunes, kurz geschnittenes Haar und trug eine Lederweste, eine Lederhose und Schuhe aus braunem Wildleder. Während er Paula die Hand schüttelte, verzog sich sein fülliges Gesicht zu einem freundlichen Lächeln, das Paula irgendwie an einen Teddybären erinnerte.
»Wen haben Sie mir denn da mitgebracht, Jules?«, fragte er mit einem leisen Kichern. »Diese schöne junge Frau weiß genau, was sie tut. Ein Vollprofi. So was spüre ich sofort.«
Murano sprach fließend Englisch und besaß eine so freundliche Ausstrahlung, dass sich Paula in seiner Gegenwart auf Anhieb wohl fühlte.
»Sie übertreiben, Signor Murano«, entgegnete sie und erwiderte sein Lächeln.
»Bitte, nennen Sie mich Mario! Alle meine Freunde nennen mich Mario, und ich spüre schon jetzt, dass Sie mir eine gute Freundin sind. Wie ich sehe, interessieren Sie sich für mein bescheidenes Heim. Schauen Sie sich ruhig um, während ich Ihnen ein Glas Wein einschenke.«
»Vielen Dank, Mario. Ich finde Ihr Haus in der Tat sehr interessant. Alles hier sieht so ungewöhnlich aus.«
Paula ging hinüber zu der Fledermausgaube, die ihr schon von außen aufgefallen war. Sie war das einzige Fenster in dem Raum. Um hinaussehen zu können, musste Paula in die Hocke gehen, weil die Unterkante des Fensters direkt mit dem Fußboden abschloss. An beiden Enden lief es in einem sanften Bogen nach oben, und selbst an seiner höchsten Stelle in der Mitte war es nicht höher als neunzig Zentimeter.
»Von hier aus haben Sie uns also kommen sehen«, sagte sie, während sie sich wieder aufrichtete.
»Gut erkannt«, sagte Mario und kicherte. »Aber kommen Sie jetzt. Setzen Sie sich zu mir und unserem Freund Jules, der es sich schon bequem gemacht hat. Natürlich gilt die Aufforderung nur, wenn Sie Ihre Erkundung meines Kaninchenbaus jetzt abgeschlossen haben.«
Beaurain hatte inzwischen auf einem der brokatgepolsterten Lehnstühle Platz genommen, die im Kreis um einen schweren antiken Tisch
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