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Identität er nicht kannte – und das noch dazu in einer fremden Stadt im finstersten Zentralasien.
Dem Inder brach am ganzen Körper der Schweiß aus. Seine Haut juckte ihn plötzlich so sehr, dass er sie am liebsten abgestreift hätte wie ein Einsiedlerkrebs, der sich eine neue Schale sucht. Einen Augenblick lang hätte er alles dafür gegeben, diesen Auftrag nicht zu Ende führen zu müssen. Er überlegte sogar, ob er sich nicht vor eines der Autos werfen sollte, die auf der Hotelpromenade am Karl-Marx-Park vorbeifuhren. Aber das war auch keine Lösung, denn wenn er überlebte, würden sie die Tasche finden und ihn foltern und schließlich töten.
Also tat Mr. Desai resigniert das, was man ihm aufgetragen hatte, und ging nach rechts zur U-Bahn . Ja, Taschkent habe eine U-Bahn , hatte ihm der Mann von der CIA versichert, und das sei gut so, weil man in der Metro einen Verfolger wunderbar abschütteln könne. Und so bezahlte der Inder seine Fahrkarte mit den fünf Kopeken, die er seit dem Verlassen des Hotels in seiner schweißnassen Hand gehalten hatte, und stieg in der Station namens «Oktoberrevolution» in die U-Bahn hinab. Die Bahnhöfe der Taschkenter Metro waren – wie die ihres Gegenstücks in Moskau – luxuriös ausgestattet. Überall prangten Wandgemälde und goldene Ornamente, und der Inder fand es irgendwiepassend, dass die Sowjets ihre schönsten Prachtbauten unter der Erde versteckten.
«Sehen Sie sich auf keinen Fall nach etwaigen Verfolgern um», hatte der CI A-Mann ihm eingeschärft. «Damit verraten Sie sich sofort.» Jetzt musste Mr. Desai sich mit aller Gewalt gegen das fast übermächtige Verlangen wehren, verstohlen über seine Schulter zu blicken. Stattdessen starrte er hinab zu seinen Schuhen und dann wieder in die runden Gesichter der Usbeken, die auf die Einfahrt des Zuges warteten. Jeder Einzelne von ihnen kam Mr. Desai wie ein Polizist in Zivil vor. Es dauerte fast zehn qualvolle Minuten, bis endlich eine U-Bahn kam und der Inder mit bebendem Herzen einsteigen konnte.
Als der Zug eine Station weiter in einem Bahnhof mit dem unvermeidlichen Namen «W.-I.-Lenin-Platz» einfuhr, tat Mr. Desai so, als wolle er aussteigen und sprang erst kurz bevor sich die Türen schlossen von dem mit prunkvollen Kronleuchtern geschmückten Bahnsteig wieder zurück in den Wagen. Er war erleichtert, als kein Gorilla vom KGB von außen gegen die Tür trommelte, um wieder in den Zug zu kommen. Aber taten KG B-Gorillas so etwas überhaupt?
Der Inder fuhr zwei Stationen weiter und stieg am Bahnhof Navoye aus, an dessen Wänden wuchtige Metallreliefs mit Hammer und Sichel prangten. Er ging über den Bahnsteig auf die andere Seite, und als der Zug in der Gegenrichtung einfuhr, vergewisserte er sich, dass keiner, der ihn bestieg, zuvor mit ihm aus dem anderen Zug ausgestiegen war, bevor er in letzter Sekunde an Bord sprang. Theoretisch war er jetzt «sauber».
Als Mr. Desai nach zwei weiteren Stationen wieder ausstieg, spürte er die Reisetasche schwer an seiner Schulter hängen. Der Mann von der CIA hatte ihm mit keinem Wort gesagt, was in ihr Futter eingenäht war, und dem Inder war das auch lieber so.Er wollte die Tasche nur so schnell wie möglich loswerden, in sein Flugzeug steigen und endlich zurück nach Hause fliegen.
Der Inder stieg hinauf in die Nachmittagssonne und ging so lässig, wie es ihm möglich war, den Karl-Marx-Prospekt entlang. Es war eine lange, von hohen Bäumen gesäumte Straße mit breiten Gehsteigen, Restaurants, einem Theater und allen möglichen Geschäften. Zum Glück machten viele Usbeken gerade ihren Nachmittagsspaziergang, sodass ein kleiner Inder, der vor seinem Abflug noch einmal einen Blick auf die Stadt werfen wollte, zwischen ihnen nicht weiter auffiel. Mit zittrigen Knien ging Mr. Desai langsam an den Cafés vorbei und hielt Ausschau nach einem Restaurant namens Krokodil, in dem er zu Abend essen sollte.
Als er es gefunden hatte, stellte sich in einer langen Reihe für das einzige Gericht an, das man dort bekam: Einen
Pilau
genannten, fettigen Eintopf aus scharf gewürztem Reis mit Karotten, Zwiebeln, Knoblauch und ein paar Brocken zähen, sehnigen Fleisches. Der Inder zahlte einen Rubel, nahm seinen Teller und setzte sich an einen leeren Tisch im hinteren Teil des Restaurants. Umschwirrt von grün schillernden Fliegen, zog Mr. Desai ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte damit den Löffel ab. Auch wenn er vielleicht schon mit einem
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