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Das Netzwerk

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Titel: Das Netzwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Ignatius
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verführte in ihrer zweiten Nacht einen neunzehnjährigen Collegestudenten, der als Hotelpage jobbte. Erst in den frühen Morgenstunden schickte sie ihn erschöpft und ausgelaugt nach Hause.
    Die Vernehmung war so oberflächlich und planlos, dass Anna den Eindruck bekam, die CIA wolle gar keine Einzelheiten von ihr wissen. Offenbar war ihr Fall den Vorgesetzten nur peinlich. Ihr konnte das recht sein, denn sie hatte keine Lust, alles noch einmal im Detail durchzugehen. Man fragte sie, ob sie den Sowjets bei ihren Verhören geheime Informationen enthüllt habe,und als sie verneinte, erntete sie ein mitleidiges Lächeln. Anna war eine Frau. Natürlich war sie schwach geworden. Bei der letzten Sitzung kam ein höherer Beamter und verlieh ihr einen Orden. Allerdings zeigte er ihr die massive Bronzemedaille mit dem CI A-Adler nur kurz, bevor er sie wieder in ihre Schatulle aus Rosenholz zurücklegte.
    «Leider dürfen wir Ihnen den Orden nicht aushändigen», erklärte der Beamte bedauernd. «Sonst könnte ihn jemand sehen und daraus schließen, dass Sie im Auftrag der CIA auf einem nicht autorisierten Einsatz waren.» Man würde den Orden in Langley für sie aufbewahren, und wenn sie ihn sich ansehen wollte, müsste sie einen Brief an ein Postfach in Arlington schicken und um einen Termin bitten.
    Ganz zum Schluss kam der Beamte auf die heikle Frage nach Annas beruflicher Zukunft zu sprechen. Als Agentin im Ausland, so sagte er, könne man sie jetzt, wo die Sowjets sie enttarnt hätten, nicht mehr einsetzen. Wenn sie im Agentendienst bleiben wolle, dann könne das Personalbüro ihr einen Job in der Inlandsabteilung geben, an einem angenehmen Ort wie Boston oder San Francisco vielleicht. Oder wie wäre es mit einer Stelle als Analystin im Innendienst? Auch das ließe sich machen. Für den Fall aber, dass sie jetzt gleich aus der CIA ausscheiden wolle, würde man ihr eine einmalige Abfindungssumme auszahlen, zusammen mit einer großzügigen Bonuszahlung aus dem Spezialfonds des Direktors. Alles, was sie in diesem Fall zu tun hätte, wäre eine Vereinbarung zu unterzeichnen, in der sie sich verpflichtete, weder die CIA noch einen ihrer Angehörigen rechtlich zu belangen und über sämtliche Vorkommnisse während ihrer Dienstzeit Stillschweigen zu bewahren.
    Anna unterschrieb die Erklärung ebenso wie ein paar weitere Vereinbarungen und nahm dankbar das Geld, denn sie hatte ohnehinnicht vorgehabt, weiter in der CIA zu bleiben. Zunächst einmal, so sagte sie dem Beamten, habe sie vor, in Harvard ihre Dissertation zu Ende zu bringen. Dieser klappte noch einmal die Rosenholzschatulle auf und ließ Anna einen letzten Blick auf ihren Orden werfen, bevor er sich verabschiedete und ging. Eine Stunde später verließ Anna das Motel und nahm das nächste Flugzeug nach Boston.
     
    47  Wie früher schon einmal, begannen Annas Tage jetzt wieder meistens damit, dass sie langsam die Stufen zur Widener Bibliothek hinaufstieg. In den zwei Jahren seit ihrem Studium hatte sich in Harvard nur wenig verändert, und auch die Titel der Vorlesungen waren immer noch die gleichen: «Der Bildungsroman von Fielding bis Joyce», «Theorie der interpersonalen Beziehungen», «Die Entstehung des modernen Europa». Das war der Segen von Orten wie Harvard und gleichzeitig auch ihr Fluch: Sie schienen immun gegen Veränderungen zu sein.
    Über der Treppe prangte noch immer das bizarre Wandgemälde, mit dem der Stifter des Gebäudes an den Tod seines Sohnes, Harry Elkins Widener, im Ersten Weltkrieg erinnern wollte. Es zeigte eine unglaublich sinnliche Frau, die einem toten Soldaten ihre Brust ins Gesicht drückte, und darunter waren folgende Verse zu lesen: «Glücklich, die in der Glut des Glaubens/​zugleich umarmen Tod und Sieg». Damals, während ihres Studiums, hatte Anna diese Worte bestimmt tausend Mal gelesen, ohne jemals wirklich zu verstehen, was sie bedeuteten. Jetzt, vor dem Hintergrund dessen, was mit Aram in Kiarki geschehen war, konnte sie ein wenig besser erahnen, was der Verfasser wohl damit gemeint haben könnte.
    Joseph S.   Mellanzana, der Direktor der Bibliothek, wies Anna einen neuen Arbeitsplatz zu. Diesmal war es die Nummer 4E nahe der Abteilung für Numismatik, Heraldik und Graphologie. Von ihrem Schreibtisch aus blickte sie durch ein kleines Fenster hinaus auf den Harvard Yard, wo Erstsemester Frisbees warfen und mit ihren Freundinnen auf dem Rasen herumschmusten. Es war inzwischen Frühsommer geworden, und über dem

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