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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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erst danach mit Jesus de Burgos sprechen, und auch mit Ludolf, dachte er. Es gibt Momente, da verdichtet sich alles. Alles läuft an einem Punkt zusammen, und wir begreifen plötzlich.
    Jetzt kommen die Dinge in Gang, dachte Henri beim Weitergehen. Birgt dieser abgelegene Ort wirklich ein Geheimnis? Warum nicht? Schon einsamere Orte haben der Weltgeschichte einen neuen Impuls verliehen.
    Bald werde ich wissen, dachte er, ob dieses Gefühl trügt, das mir sagt, in der Schöpfung tue sich ein Riss auf.
     
     
    Von der Klosterkirche aus führte eine breite Steintreppe hinauf in das Dormitorium, wo die Mönche nach dem Nachtgebet schliefen, aber auf halber Höhe befand sich eine kleine Pforte, durch die Henri das Skriptorium betrat. Der Geruch nach Farbe, Tinte, Honig, Leim und gewalktem Papyrus stieg ihm in die Nase. Der Raum lag im Dunkeln. Niemand war zu sehen. Die Schreiber und Kopisten brauchten für ihre Arbeit das helle Tageslicht.
    Der lang gestreckte Raum mit den hohen Bogenfenstern enthielt Schreibpulte, Tische und halb hohe Regale, in denen die Abschriften aufbewahrt wurden. Henri sah sich nach dem Sakristan und Schreiber um. Er bemühte sich, keine Geräusche zu machen, als er den Raum betrat.
    Auf beinahe allen Stehpulten lagen Schriften, auf den Tischen Handwerkszeug, Federn, Farbkratzer, Lineale, Papierglätter. Im Vorbeigehen warf Henri einen Blick auf die Schriften. Sie waren in lateinischer, griechischer und arabischer Sprache abgefasst. Ein aramäisches Manuskript erzählte die Legende vom heiligen Thomas. Schriftrollen steckten in Krügen, an einem Kodex wurden bunte Initialen aufgetragen, Henri konnte die Farbe riechen.
    Henri stellte sich an eine der dünnen Säulen, die den Raum trugen. Er wartete. Der Sakristan kam nicht.
    Henri überlegte, was er vom Apostel Barnabas wusste. Er war ein Begleiter des Apostels Paulus gewesen, ein jüdischer Levit, der Sohn eines zypriotischen Gutsbesitzers.
    Hatte er nicht lange in Jerusalem gelebt? In der Apostelgeschichte, die Henri beinahe auswendig kannte, wird er zum ersten Mal erwähnt, als er einen Acker verkauft und Petrus den Erlös schenkt, damit er ihn der jungen christlichen Gemeinde gibt. Henri erinnerte sich, dass Barnabas eigentlich Joses geheißen hatte, seinen neuen Namen, der ›Sohn des Trostes‹ bedeutete, hatten ihm die Apostel verliehen.
    Barnabas musste ein vortrefflicher Mann mit einem tiefen Glauben gewesen sein.
    War da nicht ein Geräusch? Henri blickte hinüber zur Wand, wo sich ein breites Schreibpult befand. Vielleicht eine Maus, dachte Henri, sie haben hier keine Vorhänge vor den Fenstern, Tiere, auch Vögel, können jederzeit eindringen.
    Henri erinnerte sich an den Fortgang der Geschichte. Als Paulus nach seiner Bekehrung auf der Straße nach Damaskus nach Jerusalem kam, war es Barnabas, der ihn bei sich aufnahm und ihn den noch zweifelnden Jüngern vorstellte. Paulus war den Jüngern Jesu nicht nur unheimlich, weil er als unerbittlicher Christenverfolger bekannt geworden war, sondern auch wegen seiner Visionen. Er behauptete, Jesus und seine Lehren besser zu verstehen als die Jünger, die ihn jahrelang begleitet hatten. Man stritt sich damals auch um die Frage, ob die Christen sämtliche Gebote der jüdischen Thora einzuhalten hätten.
    Henri wurde langsam unruhig. Aber was konnte er tun, als weiter zu warten? Irgendwann würde der Sakristan schon auftauchen.
    Barnabas hatte sich Paulus angeschlossen, als er nach Antiochia aufbrach. Dort wurden sie wegen ihrer leidenschaftlichen Predigten und Missionsversuche von einer aufgebrachten Menge vertrieben, und sie zogen weiter nach Ikonion und in andere Städte, wo sie wegen ihres Auftretens und ihrer Taten für Götter gehalten wurden. Sie genossen diesen Ruhm wohl auch und verärgerten damit natürlich die Juden in den Synagogen. Nach der Rückkehr nach Jerusalem wurden beide wieder in den Kreis der Apostel aufgenommen. Danach begaben sie sich noch einmal nach Antiochia. Dort musste es jedoch zu einem heftigen Streit zwischen beiden gekommen sein, denn sie trennten sich, und Barnabas fuhr mit Markus und Johannes nach Zypern.
    Barnabas heilte auf der Insel Kranke, indem er ihnen das Matthäus-Evangelium auflegte. Warum man ihn eines Tages steinigte, ist nur eines der Rätsel, die diesen Mann umgaben.
    Er war ein Getriebener, dachte Henri, so wie ich. Wir ziehen um die Welt wie der ewige Jude, der seine Ruhe nicht finden kann.
    Erneut entstand ein Geräusch im hinteren Teil des

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