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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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Skriptoriums. Etwas huschte davon. Tatsächlich ein Tier, dachte Henri. Der Mond stand jetzt so, dass sein Licht durch eines der Fenster fiel. Aber in seinem Schlagschatten blieb alles schwarz.
    Das Grab des Barnabas, an dem Henri zuvor gestanden hatte, war auf wundersame Weise entdeckt worden. Ludolf von Suchen hatte davon erzählt, diese Anekdote hatte Henri zuvor nicht gekannt. Der Geist des Barnabas war dem Erzbischof Anthemios in einer Vision erschienen und hatte ihm verraten, wo die Gebeine des Apostels zu finden waren. Die Christen der Insel zogen daraufhin an einem Frühsommertag zu dem angegebenen Ort, öffneten das Grab und fanden die Leiche des Barnabas. Auf seiner Brust lag eine von ihm selbst angefertigte Abschrift des Matthäus-Evangeliums.
    Was hatte es nun mit dieser Schrift auf sich?, dachte Henri. Fand man wirklich eine Abschrift des Matthäus-Evangeliums im Grab des Barnabas, oder war es ein neues, von ihm geschriebenes Evangelium?
    Diese Frage war bisher offen geblieben. Deshalb waren sie hierher gepilgert. Ludolf von Suchen war an dieser Frage ebenso interessiert wie Henri. Und vielleicht auch Jesus de Burgos.
    Und der Sakristan dieses Klosters.
    Henri hörte ein Stöhnen, ein Keuchen. Etwas bewegte sich. Jetzt hielt er es nicht mehr aus an seinem Platz. Er ging hinüber.
    Unter dem langen Schreibpult lag etwas, das er gleich darauf als menschlichen Körper erkannte. Jetzt ahnte er, was geschehen war. Er kniete nieder und zog den Liegenden unter dem Schreibpult hervor. Es war der Sakristan. Sein Kopf blutete.
    Henri bettete den Kopf des Verletzten auf seinem Schoß. Dann tupfte er das Blut mit einem Tuch ab. Der Sakristan lebte, jetzt öffnete er die Augen. Verständnislos sah er um sich. Er erblickte Henri und schloss die Augen wieder.
    »Was ist geschehen?«, fragte Henri eindringlich.
    Der Mönch sah ihn an. »Sie dulden es nicht«, flüsterte er. »Jemand hat verraten, dass ich dir die Schrift zeigen wollte. Sie wollen nicht, dass jemand das neue Evangelium zu Gesicht bekommt. Darauf liegt ein Fluch. Schon vor Wochen, im Sommer, als das Schriftstück entdeckt wurde, brachten sie jemanden um.«
    Der Verletzte stöhnte erneut auf, und Henri befürchtete, er würde in Ohnmacht fallen oder gar sterben. »Sprich nicht, ruh dich aus«, sagte er.
    Nach einer Weile kam der Mönch wieder zu sich. Er versuchte, sich aufzurichten, aber es gelang ihm nicht. Er hielt sich den Kopf, dann deutete er auf die Pultplatte.
    »Hole es, dort habe ich es hingelegt.«
    Henri blickte auf den Tisch. »Dort liegt nichts außer Schreibfedern.«
    Der Sakristan stöhnte wieder. »Sie haben es zurückgebracht. Wenn sie es verschließen, geht es der Welt für immer verloren.«
    »Wer sind sie?«, fragte Henri.
    »Sie? Die Altgläubigen. Sie wollen nicht, dass etwas Neues in die Welt tritt. Sie empfinden es als einen Angriff auf ihre Macht. Und sie setzen alle Mittel ein, um die zu bekämpfen, die sich ihnen entgegenstellen.«
    »Dann ist es in diesem Kloster lebensgefährlich«, sagte Henri. »Wir werden es verlassen. Und du kommst mit.«
    »Ich kann nicht«, sagte der Sakristan. »Ich bin diesem Kloster für immer geschenkt worden. Wenn ich weggehe, trifft mich der Fluch. Deshalb haben sie mich mit dieser Schriftrolle betraut, ich darf nicht sprechen. Aber ich muss es doch! Denn der Mönch, den sie ermordet haben, war mein Bruder!«
    »Du musst zu dir kommen«, sagte Henri. »Kannst du aufstehen? Dann führe ich dich in meine Zelle. Dort können wir dich pflegen.«
    »Nein, lass mich! Ich darf dich und deine Freunde nicht hineinziehen! Ich muss es allein durchstehen. Aber ich bitte euch – reist am Morgen ab!«
    »Komm mit mir, hier bist du verloren.«
    »Geh jetzt, um Gottes willen! Geh, bevor es zu spät ist! Ich spüre, dass sie sich wieder nähern!«

 
    6
     
     
     
    Ende Februar 1320. Der Gesandte
     
    Madeleine hatte sich bei Sean untergehakt. Die junge Frau verspürte Langeweile. Uthman ließ sich nicht blicken. Und obwohl Henri eine Drohung aus dem Kreis der Mönche erhalten hatte, wollte er das Kloster nicht verlassen. Madeleine verstand nicht, warum er noch zögerte. Brachte er sie nicht alle in Lebensgefahr? Madeleine hatte schon überlegt, die Gefährten eigensinnig im Stich zu lassen. Sean versuchte, sie davon abzuhalten.
    Sie verließen das Klostergelände. Zwischen Palmenreihen hindurch schlängelte sich ein kleiner Weg durch die Landschaft. Es roch gut. Nur am Himmel zeigten sich seit dem Vortag dunkle

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