Das neue Evangelium
Religion kannte. Was geschah, das geschah, Allahs Pläne waren weise.
Uthman betrat neugierig ein Heiligtum, das aus einer Halle und zwei inneren Kulträumen bestand. In der Halle standen ein Altar und ein Tisch für Opfergaben, um ihn herum lagen Stierschädel und Masken. Bei Kulthandlungen für ihren Gott, dessen Statue Uthman in einem Nebenraum sah, trugen die Priester hier offenbar Stiergesichter. Uthman war erstaunt darüber, dass die orthodoxe Christenheit solche Praktiken duldete. Vielleicht war Enkomi die Stadt der Toleranz, denn hier hatten bereits Menschen vieler Religionen gelebt.
Uthman dachte: Warum nicht hier bleiben? Hier kann offenbar jeder seinen Glauben ausleben. Ich könnte mit Madeleine zum jüdischen Glauben übertreten oder sie auch heiraten und den anderen Glauben duldend mit ihr leben. Vielleicht wäre es in Enkomi möglich?
Er sah, dass die Stadt schön war. Sie wurde überragt von zwei Festungen, die auf halber Höhe an den Berghängen lagen. Die Straßen waren breit und sauber. Menschen saßen vor ihren Häusern. In einem anderen Heiligtum trat Uthman in einen rechteckigen Hof mit Ablagen für Opfergaben und einem kreisrunden Altar. Welchem Gott wurde hier gedient? Er sah keinen einzigen Menschen hier.
Aber in einem Raum stand eine bärtige Statue mit einem gehörnten Helm, die Uthman an den Svantevit erinnerte, einen Gott der baltischen und slawischen Völker, den er auf der Suche nach der untergegangenen Stadt Vineta gesehen hatte. Er trug ebenfalls Speer und Schild in den klauenartigen Händen, wie diese Statue hier. Jetzt sah Uthman, dass der Gott auf einem Bronzebarren stand. Als Opfergaben lagen etliche Silbermünzen davor. Niemand kümmerte sich darum, dass hier ein kleiner Schatz unbeaufsichtigt herumlag.
Nirgends waren Priester, Aufseher oder Büttel, die für Ordnung sorgten und die Besucher im Blick behielten.
Während Uthman weiterging und in einer Schenke einen duftenden Tee trank, erzählte ihm jemand, die Festungen auf der Höhe seien die Sommersitze des Geschlechts der Lusignans, der Herrscher. Aber sie regierten ohne Soldaten. Jetzt, am Ende des Winters, erwartete man sie aus Venedig.
Uthman blieb einfach sitzen. Er trank seinen Tee, blickte um sich und ließ die Zeit vergehen. Das hatte er lange nicht mehr getan. Hier in Enkomi fühlte er sich in Sicherheit.
Er musste nichts weiter tun, als sich als Teil der Schöpfung zu fühlen. Es war ein schöner Gedanke.
Nur Madeleine fehlte ihm. Und der Gedanke an die schöne junge Frau versetzte ihm einen Stich.
Henri nahm Sean mit sich, er wollte ihm den Ort des Verbrechens zeigen. Henri war sich selbst nicht sicher, ob er nicht etwas übersehen hatte. Der Sakristan war seit dem nächtlichen Überfall nicht mehr im Kloster. Der Abt hatte Henri erzählt, er erhole sich von dem feigen Anschlag eines unbekannten Täters in einem Spital von Salamis. Also versuchte Henri auf eigene Faust, etwas herauszubekommen.
Im Skriptorium arbeiteten an diesem Vormittag zwölf Mönche. Henri ging umher und durfte ihnen über die Schulter schauen, der Abt hatte es ausdrücklich erlaubt. Henri machte Sean auf manche Dinge aufmerksam. Beide bewunderten die Perfektion, mit der die Schreiber ihre Arbeiten ausführten, sowie die Schönheit ihrer Schriftverzierungen und Ornamente.
An dem breiten Schreibpult, wo Henri den verletzten Sakristan gefunden hatte, arbeitete ein junger Mönch an einem Kodex. Er zeichnete gerade eine Lignatur, die den Text, den er abschrieb, einleitete.
Das Buch, das vor ihm lag, war in schwarzes Leder gebunden und ziemlich dick, zwei Silbermedaillons auf der Vorderseite zeigten zwei Porträts, zwei gefasste Medaillons auf der Rückenansicht trugen ein Wappen. Der junge Mönch wendete den Kodex hin und her, schlug ihn auf und zu und prüfte seine Gesamterscheinung. Seine Finger fuhren über die Zeilen. Die Bilder von Pflanzen und Gewächsen des Frühlings leuchteten in kräftigen Farben. Die mehrzeiligen goldenen Zierinitialen auf rotem und blauem Grund erzeugten ein wahres Feuerwerk in bunten Farben und Gold. Bis in den Bordürenschmuck hinein entfalteten sich winzige, aber erstaunlich detailliert gemalte Miniaturen. Besonders gefielen den beiden Besuchern die Streublumenbordüren, die der junge Mönch im ornamentalen Stil gemalt hatte, Blüten, Früchte und Tiere darauf kamen auf spiegelndem Goldgrund besonders zur Geltung.
»Alles sieht schön aus«, sagte Sean leise.
»Ja, zweifellos, aber achte auf den
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