Das neue Evangelium
entscheiden, wer an meiner Seite ist. Wir haben ja eben herausgefunden, dass du für mich keinen Rat weißt.«
Sean schwieg. Auch Grimaud sagte nichts. Er blickte nur aus seinen brennenden Augen, in denen Flammen zu züngeln schienen, von einem zum anderen. Sean wurde er langsam unheimlich. Er verkniff sich aber eine Bemerkung.
Sie hatten die Klostermauern fast erreicht. Jetzt kam die Sonne wieder hervor, die dunklen Wolken zogen weiter.
Grimaud hatte inzwischen wohl eingesehen, dass er Sean nicht weiter verärgern sollte. Er fragte ihn höflich: »Wann wird deine Ausbildung beendet sein, mein Sohn?«
»Bald! Dann erhalte ich den Gürtel und das Schwert. Und weil mein Ausbilder ein berühmter Ritter ist, der bereits mehrfach im Heiligen Land kämpfte, werde auch ich ein berühmter Ritter werden! Man wird meinen Namen bald überall kennen und ehren!«
»Wie heißt du denn, feuriger Knappe?«
Sean nannte seinen Namen.
»Und dein Ritter ist wer?«
Plötzlich bemerkte Sean einen lauernden Ausdruck in der Miene des Fremden und hielt sich zur Vorsicht an. Doch es war bereits zu spät.
»Henri de Roslin!«, rief Madeleine voller Stolz aus. »In England und in Frankreich ein weithin berühmter Mann!«
»Madeleine!«
Jean Grimaud war bei der Nennung des Namens leicht zusammengezuckt. Dann lächelte er wieder. Er ging auf die andere Seite des Pferdes, um es an einem Felsbrocken vorbeizuführen.
»Ich kenne den Namen«, sagte er dann, »jedenfalls bilde ich mir das ein. Aber ich kenne nicht die Person. Ist er also ebenfalls hier auf Zypern?«
»Im Kloster«, erwiderte Sean, der sich noch immer über Madeleine ärgerte. »Wenn Ihr ihn trefft, werdet Ihr begreifen, was für ein großer Mann er ist.«
»Ich werde ihn treffen«, sagte Grimaud, »daran besteht kein Zweifel.«
»Ich kann das arrangieren«, bot sich Sean an.
»Ist noch jemand bei euch?«, wollte Grimaud wissen.
»Nein«, sagte Sean schnell, bevor Madeleine antworten konnte.
»Nur zwei weitere Pilger«, warf Madeleine hinterher, »die wir unterwegs zufällig trafen. Das Kloster des heiligen Barnabas ist ein beliebter Ort, um Sünden zu beichten – oder auch, um seinem Leben eine neue Richtung zu geben.«
»So seid ihr also zu dritt«, sagte Grimaud. Sean fragte sich, warum er so zufrieden aussah.
»Ein Knappe, ein berühmter Ritter auf Pilgerfahrt und eine junge Frau, die sich langweilt«, lachte Madeleine. »Es muss Euch seltsam vorkommen, uns hier draußen in der Einöde zu begegnen.«
»Keineswegs«, sagte Grimaud. »Man trifft auf Zypern die interessantesten Menschen aus aller Herren Länder. Und viele haben aufregende Dinge erlebt. Hier sind ihre Abenteuer meist zu Ende!«
»Wie meint Ihr das?«, fragte Sean erstaunt.
»Ach, nur so. Sie – bleiben oft, weil es eine schöne Insel ist. Oder sie…«
»Was denn?«
»Ach nichts! Es ist unwichtig!«
Sie erreichten die Klosterpforte. Grimaud half Madeleine vom Pferd. Dann saß er selbst auf.
»Ihr begleitet uns nicht?«, rief Madeleine enttäuscht. »Ich hatte gehofft…«
»Ich habe noch einiges in Enkomi zu erledigen«, sagte der Fremde. »Ich suche euch auf, sobald ich kann. Adieu, teure Schöne, adieu treuer Knappe!«
Der Fremde riss sein Pferd am Zügel herum und preschte fort. Madeleine sah ihm noch lange nach. Sean stapfte in das Kloster.
Uthman war dem Mann nicht gefolgt, der ihm so seltsam vorgekommen war. Er hatte nicht vor, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Was ging es ihn an, ob sich ein Wildfremder auffällig verhielt! Uthman wartete ab. Er musste sich eingestehen, dass er eigentlich auf Madeleine wartete. Er fühlte Sehnsucht nach ihr. Aber die junge Frau kam nicht. Und allmählich stellte sich der Sarazene darauf ein, dass er auf sie ganz verzichten musste.
Uthman ging in der Stadt Enkomi umher. Die alte Stadt der Seefahrer war herausgeputzt. Sie war oft zerstört worden, immer wieder waren über das Meer Eroberer gekommen, die sie eingenommen hatten. Man hatte Enkomi in unerschütterlicher Beharrlichkeit jedes Mal wieder aufgebaut. Und jetzt glänzte die kleine Stadt mit der ruhmreichen Vergangenheit im Licht der Sonne, die auf Palästen, weißen Häusern mit Terrassen, umfriedeten Plätzen, Gärten, Palmen und Pinienhainen lag.
Die Stadt war Sitz des Königs und hellenistische Provinzstadt zugleich gewesen. Sie hatte sich nie angestrengt, mehr zu werden, sie genügte sich selbst. Sie strömte den Geist der Gelassenheit aus, den Uthman aus seiner eigenen
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