Das neue Evangelium
Text«, ermahnte ihn Henri. »Lass dich nicht ablenken.«
Es war eine Abschrift in arabischer Sprache. Henri verstand so viel davon, dass er den Inhalt erraten konnte. Es ging um ein Traktat des Kirchenvaters Augustinus, der sich in einem Dialog mit einem Muslim befand.
Sean riss die Augen auf und prägte sich alles genau ein, sein Übereifer amüsierte Henri.
»Schau«, sagte Henri, »es ist ein unverfänglicher Text, vielleicht eine Auftragsarbeit, die Schönheit des Schmuckwerks mildert das Belehrende des Textes ab, ist vielleicht sogar wichtiger als der Text selbst. Was ziehst du daraus für Schlussfolgerungen, mein Knappe?«
Sean blickte verdutzt. »Schlussfolgerung, Herr Henri?«
»Ja, du verstehst mich doch?«
»Schon. Aber – nun, hier werden also unverfängliche Schriften abgeschrieben, hier ist ganz offensichtlich nichts vorhanden, was man verbergen müsste?«
»Sehr gut! Genau das ist es. Jetzt haben wir aber einen Text des Barnabas, hinter dem offenbar alle her sind. Ludolf von Suchen beispielsweise ist ganz unglücklich und belagert den Abt, um die Erlaubnis zu erhalten, die Schrift endlich sehen zu dürfen. Aber wird es dazu kommen?«
»Es wird wohl noch etwas dauern, er muss sich gedulden. Wir sind ja erst seit kurzem hier.«
»Das ist der springende Punkt, Sean. Es wird noch etwas dauern.«
»Ja, Herr!« Sean blickte Henri verständnislos an.
»Was bedeutet das?«
»Ich weiß nicht, Herr Henri.«
»Sie versuchen, Zeit zu gewinnen. Und was könnte inzwischen geschehen?«
»Ähm…«
»Sie könnten eine zweite Schrift herstellen, nicht wahr?«
»Ah! Eine gefälschte, meinst du?«
Henri nickte leicht. »Das wäre denkbar.«
»Zumindest eine, die abgemildert ist«, sprach Sean weiter. »Aus der das Gefährliche getilgt ist. Und wenn sie es mit schönem Schmuckwerk verzieren, nimmt niemand Anstoß daran. Man sieht das neue Evangelium, freut sich an seiner Schönheit – und vergisst es wieder.«
»Ausgezeichnet, mein Knappe! Du begreifst schnell. Was müssen wir also tun?«
»Wir müssen das Evangelium in Augenschein nehmen, bevor ein zweites hergestellt wird, in dem nichts Interessantes mehr steht!«
»Richtig. Aber wo finden wir die Schriftrolle, um die es geht?«
»Dort, wo die Abschriften gemacht werden, denn der Kopist braucht ja das Original.«
»Stimmt. Aber da wir unbehelligt hier herumspazieren dürfen, wird sich dieses Original nicht hier befinden, nicht wahr? Denn es wird kaum hier abgeschrieben werden.«
»Ja, Herr Henri! Es wird woanders sein!«
Henri lächelte seinen Knappen aufmunternd an. »Und wo halten sie es wohl versteckt?«
Sean dachte nach. Er kratzte sich den Kopf. Dann hellte sich sein Gesicht auf.
»Im Abteigebäude, in der Prälatur, dort, wo die Räume des Abts sind.«
»Und warum dort?«
»Weil der Abt die Arbeit kontrollieren muss. Er hält alles in seinen Händen, damit nichts bekannt wird, das nicht seine Zustimmung erhalten hat.«
»Ausgezeichnet. Warum sind wir dann also hier in diesem Skriptorium?«
»Damit ich begreife, wohin wir uns demnächst begeben werden!«
»Sehr richtig. Aber es ist nicht ungefährlich, wie man am Fall des Sakristans sieht.«
»Der arme Mann!«
»Ich werde ihn im Spital von Salamis aufsuchen«, überlegte Henri, »er muss mir noch mehr erzählen. Langsam begreife ich, dass es hier um mehr geht als um eine Schriftrolle. Es steht etwas ganz anderes auf dem Spiel.«
»Aber was, Meister Henri?«
»Wir versuchen, uns das Original anzuschauen. Möglichst zusammen mit Uthman. Irgendwas an diesem Manuskript muss gefährlich sein.«
»Wie spannend!«, freute sich Sean.
»Ich habe das Gefühl«, sagte Henri, »wir werden von allen Seiten beobachtet. In diesem Kloster ist es nicht so, wie es sein sollte. Also verhalten wir uns ganz ruhig. So wie sich Liebhaber schöner Schriftrollen verhalten. Wir schauen den Schreibern noch eine Weile über die Schulter. Am Abend werde ich nach Salamis reiten. Du reitest vorher nach Enkomi zu Uthman und holst ihn hierher. Wir treffen uns am Krankenbett des bedauernswerten Sakristans.«
»Was sagen wir Ludolf und Jesus de Burgos?«
»Nichts. Sie sollen ruhig weiterhin den Abt bedrängen, das beschäftigt sie und lenkt von uns ab.«
»Endlich wieder was zu tun!«, freute sich Sean.
»Hoffen wir, dass es uns nicht über den Kopf wächst!«
Madeleines Gedanken kreisten um den galanten Herrn Grimaud. Was für ein gesitteter Mensch! So anders als die Männer, mit denen sie es zu
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