Das neue Evangelium
sein Ritt in gestreckten Galopp über. Sean ritt gern, er spürte den kräftigen Körper des Pferdes unter sich, das ihn willig trug. Am frühen Nachmittag erreichte er Enkomi.
Da Sean wusste, in welchem Viertel Uthman untergekommen war, ritt er direkt dorthin. Uthman saß vor einer kleinen Schänke und trank schwarzen Kaffee, den syrische Kaufleute hierher gebracht hatten. Er hatte mit einem dieser Kaufleute am Morgen gesprochen. Uthman machte gerade einen tiefen Zug aus einer Wasserpfeife und sah zufrieden aus.
»Mein Uthman!«, sagte Sean, »es geht dir gut, wie ich sehe, aber wir müssen uns beeilen, Henri wartet auf uns.«
Uthman war sofort zum Aufbruch bereit. Unterwegs erklärte ihm Sean alles. Uthman hörte schweigend zu, auch die Anekdote mit Jean Grimaud nahm er schweigend zur Kenntnis. Er machte auf Sean den Eindruck, als wandle er schon auf ganz anderen Wegen.
Sie ritten im Galopp dahin, jetzt wieder nach Nordosten. Linkerhand tauchte das Barnabas-Kloster inmitten der blühenden Wiesen auf und verschwand wieder. In flachen, weißen Gebäuden, die am Wegrand standen, befanden sich Werkstätten, in denen Kupfer verarbeitet wurde. Man hörte Getöse von Schlaghämmern, und es roch nach Feuer. Das Meer kam in Sicht und warf seine silbernen Lichter.
Als sie in Salamis einritten, fragten sie sich nach dem Spital durch und fanden es zügig. Auf seinem Dach wehte die Fahne des Hospitaliterordens. Schon von weitem sahen sie auch Henri. Er stand auf einem freien Platz wie eine Statue, sein Blick war zum Himmel gerichtet. Dann hob er einen Arm und machte eine Geste, als wollte er danken.
Uthman und Sean blickten sich fragend an. Mit wem sprach Henri? Sie erreichten den Platz und sprangen von den Pferden. Henri drehte sich nicht nach ihnen um.
Henri wirkte, als habe er etwas entdeckt, das ihn gefangen nahm. Aber es war nur ein Gedanke, der ihn beherrschte. Es war ihm plötzlich eingefallen, dass er etwas übersehen hatte. Im Skriptorium des Klosters hatte es einen deutlichen Hinweis auf den Verbleib des Sakristans gegeben.
Er hatte ihn übersehen.
Der Sakristan war aus dem Kloster verbannt worden. Er war niemals zur Behandlung seiner Verletzungen in das Spital eingewiesen worden. Man hatte ihn einfach aus dem Verkehr gezogen. Diese Annahme stützte sich auf ein Bild, an das sich Henri jetzt wieder erinnerte. Es war eine Zeichnung in dem Kodex, den der junge Mönch im Skriptorium bearbeitet hatte.
Sie zeigte einen Mann in einem See. In seinem Hals steckte ein Pfeil. Der Getroffene hatte die Augen aufgerissen und schien zu schreien. Sein Gesicht war dem Betrachter zugewendet. Es war eindeutig das Gesicht des Sakristans und Schreibers gewesen!
Henri fragte sich, warum er das nicht gleich erkannt hatte. Vielleicht, dachte er, weil dieses Zeichen so überdeutlich ist. Vielleicht auch, weil er zu der Zeit noch keinen Verdacht geschöpft hatte. Ohne Verdacht sieht man keinen Ermordeten und keinen Mörder.
Dinge, dachte Henri, sind nicht nur dazu da, um sich selbst zu zeigen. Sie verdecken auch dahinter Liegendes.
Henri wusste, er würde sofort ins Kloster zurückreiten müssen, um sich diese Zeichnung noch einmal anzusehen. Und er musste den jungen Mönch befragen. Hatte er das Bild gemalt? Und warum? In wessen Auftrag? Welchen Sinn ergab das? Und wenn er nicht der Illustrator gewesen war, wer hatte die Zeichnung dann angefertigt?
Als Henri sich umdrehte, sah er die Gefährten auf sich zukommen. Er senkte seinen Arm, den er bei seiner Erkenntnis ausgestreckt hatte, auch aus Enttäuschung über sich selbst, weil er den Hinweis nicht gleich beim ersten Anschauen bemerkt hatte. Er teilte seinen beiden Freunden mit, was ihm soeben aufgegangen war. Sie mussten zurück ins Kloster.
»Begleite uns, Uthman!«, bat Henri. »Ich glaube, wir werden die geheimnisvolle Schrift bald zu sehen bekommen. In dem Fall brauche ich dich sofort als Übersetzer. Denn es kann sein, dass wir dann schnelle Entscheidungen zu treffen haben.«
»Hier ist ein schöner Ort«, meinte Uthman, »ich habe mir überlegt, ob ich nicht in einer solchen Stadt leben möchte. Sie scheint sehr friedlich und tolerant zu sein.«
»Du wolltest doch zu deiner Familie nach Syrien!«
»Auch das. Manchmal will man mehrere Dinge gleichzeitig. Aber entscheiden muss man sich für eines.«
»Komm mit ins Kloster!«, sagte Henri eindringlich. »Wir holen deine Sachen, dann quartieren wir dich im Kloster ein. Vergiss für zwei, drei Tage deine
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