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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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ist und heikle Dinge ans Tageslicht bringen kann.«
    »Wir können erst etwas dazu sagen, wenn wir es mit eigenen Augen gesehen haben«, meinte Henri.
    Die Abend- und frühen Nachtstunden vergingen, dann verklangen die letzten Gebete der Mönche. In den Zellen erloschen die Kerzen. Der Klosterhof leerte sich. Der Abt und sein Stellvertreter, Proskenion und einige andere Mönche kehrten in ihre Zellen zurück. Den blonden Mönch Askenios hatte Henri nicht mehr gesehen. Über das Prälaturgebäude legten sich die wenigen Stunden des nächtlichen Schlafes, in denen Gott nicht angebetet wurde. Das war der richtige Zeitpunkt.
    Henri und Uthman brachen auf. Henri kannte den Klosterplan genau. Jedes Kloster in der christlichen Tradition des Abendlandes, auch hier in der Ostkirche, war nach einem genauen Grundriss gebaut worden. Baumeister im schweizerischen St. Gallen hatten ihn einst nach Entwürfen des heiligen Benedikt festgelegt.
    Um nicht aufzufallen, machten sie einen Umweg. Sie verließen den Gästetrakt durch den Hinterausgang, dann ging es durch ein grünes Tor in ein Gebäude der Gärtnerei. Alle Tore waren dort geöffnet, das hatte Henri vorher herausgefunden. Über die Gänge der Orangerie erreichten sie die alte Abtei. Sie stiegen ein paar Treppen empor und gingen durch eine Galerie, die oberhalb des Krankenbaus nach Westen führte. Als sie dort entlang schlichen, hörten sie unten Schlafgeräusche und Stöhnen, leises Flüstern von Kranken im Schlaf. Sie passierten das Refektorium und standen bald darauf im Keller der Präfektur. Von hier aus führte eine schmale, abgetretene Stiege empor in die Räume des Abts. Im so genannten Kaisersaal befand sich sein Schreibzimmer.
    Die beiden nächtlichen Eindringlinge hielten den Atem an. Alles blieb ruhig. Henri hatte auch an eine kleine Lichtquelle in Gestalt einer Wachskerze gedacht, aber der Mondschein fiel hell genug durch die Fensteröffnungen.
    Im Schreibzimmer des Abts, das mit einer kostbar bemalten Ledertapete ausgestattet war, befand sich ein unverhältnismäßig langer Tisch mit gedrechselten Beinen, darüber hing ein Bild mit einem Porträtkopf.
    Auf dem Schreibtisch lagen Schriften, Pergamente, Folianten. Schreibwerkzeug stand in schmalen Gefäßen. Es roch schwach nach Weihrauch und Staub.
    Die Eindringlinge hatten nicht zu hoffen gewagt, dass es so leicht sein würde. Aber da lag die Schrift – so, als warte sie geradezu auf die nächtlichen Besucher.
    Es war ein kleiner Stapel beschriebener Blätter in der Größe von Foliantpapier, wie es Uthman aus der Bibliothek von Cordoba kannte. Dort lagerten die geschriebenen Schätze des Abendlandes in jedem Format. Gehörte dieses Manuskript dazu?
    Hier war also das unscheinbar wirkende Schriftstück. Ihm mochte eine Bedeutung zukommen, die Henri und Uthman gar nicht ermessen konnten. Die einzelnen Seiten knisterten unter ihren tastenden Händen.
    Auf den ersten Blick schien die Schrift sehr alt zu sein. Stockflecken bildeten sich auf dem Weiß. Die Blätter fühlten sich faserig und körnig an, anders als neuer Papyrus. Die Handschrift war sorgfältig und ebenmäßig, mit kunstvoll gestalteten Initialen und Ligaturen, die auf eine geübte Hand schließen ließen.
    Sie lauschten noch einmal. Alles blieb ruhig. Die Schlafräume des Abts waren von seinem Schreibzimmer ungefähr hundert Schritte entfernt. Wenn es dem Abt einfallen sollte, in der Nacht noch zu arbeiten, würden ihn seine Schritte rechtzeitig ankündigen, sodass sie genug Zeit hatten, den Rückzug anzutreten.
    »Bist du bereit?«, fragte Henri.
    Uthman nickte stumm.
    Sie setzten sich nebeneinander auf zwei Schemel, und Uthman begann, die Schrift zu studieren.
    Henri blickte abwechselnd auf den lesenden Freund und den Papyrus. Er musste sich in Geduld üben. Einmal hielt er es nicht mehr aus und fragte leise:
    »Und? Was steht darin?«
    Uthman markierte die gerade gelesene Stelle mit dem Finger und sah zu Henri herüber. »Warte noch. Es ist spannend. Es ist in der Tat etwas Neues.«
    Ein ungutes Gefühl beschlich Henri. Er starrte die Schrift an. Er stellte sich vor, wie die Hände des Apostels sie berührten. Er sah die Rohrfeder gleiten, er hörte das kratzende Geräusch der Feder auf der Unterlage, er sah, wie Wort um Wort Gestalt annahm, wie aus einzelnen Sätzen eine neue Wahrheit wurde.
    Vor seinem geistigen Auge tauchten plötzlich auch andere Bilder auf. Barnabas und neben ihm Gestalten, die mit Jesus Christus umherzogen. Die siebzig

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