Das neue Evangelium
Ketzer!«, brüllte Grimaud. »Ich habe es erst herausfinden müssen, denn freiwillig bekannte er es nicht. Ich habe Zeit und Geduld aufbringen müssen, um dahinter zu kommen, das muss jetzt beglichen werden! Über den alten Ketzer dort wusste ich gleich Bescheid, er war mir aus meinem Heimatland gemeldet worden. Aber diesen Henri und sein Pack, die musste ich erst mühsam enttarnen. Diese Arbeit muss jetzt entgolten werden, denn sie hat mir schlaflose Nächte bereitet.«
Jesus de Burgos sagte: »Nehmt mich! Ich bin schuldig, die anderen nicht. Schon gar nicht die Frau und der Junge. Verurteilt mich. Wenn meine Sünde ist, Templer gewesen zu sein, dann will ich dafür büßen.«
»Auch ich war Templer!«, sagte Henri plötzlich. »Und ich bin es, weiß Gott, noch immer! Hol dich der Teufel, Grimaud!«
Der Angesprochene schnaubte, sagte aber nichts. Die Soldaten prüften noch einmal die Fesseln.
»Wenn ihr im Kerker verrottet seid oder am Galgen baumelt, den Raben zum Fraß, dann kehrt Ruhe ein!« Grimauds Ton war scharf und herrisch. »Dann erst kann ich ausruhen. Dann sind die gefährlichsten Subjekte gefasst. Es ist ja ein Ruhmesblatt ohnegleichen, dass wir es geschafft haben, alle Ketzer zu fassen. Wie viel Mühe hat es bedurft! Wie viele schlaflose Nächte, Reisen und Kosten! Meint ihr etwa, ihr Hunde, wir sind ohne Mühe auf eure Spur gekommen? Ihr habt euch gut getarnt, oh ja! Ihr habt dem Staat viel Verdruss bereitet! Und der König hat lange schlaflos gelegen, in Sorge darüber, was ihr noch alles ausbrütet. Jetzt endlich kann Ruhe einkehren.«
»Ruhe kehrt erst ein, wenn Verräter wie ihr ihre gerechte Strafe gefunden haben«, sagte Jesus mit bewundernswerter Ruhe. »Ihr seid es, die die Schöpfung stören, ihr, die Spitzel, die Verräter, die Söldner, die Büttel!«
»Wovon redest du, Templer?«, rief Grimaud. »Bist du verrückt? Bist du ein Narr? Wie kann es sein, dass man die Dinge so auf den Kopf stellt! Ihr seid die Gefahr! Ihr! Ihr!«
»Ihr wisst wirklich nicht, dass man den freien Geist nicht mit Lanzen und Hellebarden abtöten kann, Grimaud?«, fragte Jesus. »Es wird eine Zeit kommen, da hat die Willkür des Staates ein Ende, und freie Bürger nehmen ihre Dinge in die eigenen Hände. Wir brauchen keine Büttel, wir wissen allein, was richtig und falsch ist. Verhaftet uns, aber das ist nicht das letzte Wort! Der Herrgott ist auf unserer Seite!«
»Stopft ihm das Maul«, schrie Grimaud.
»Nein!« Madeleine stellte sich vor den alten Pilger.
»Lasst ihn in Ruhe. Wenn Ihr noch einen Funken menschlichen Gefühls in Euch habt, Grimaud, dann lasst uns alle in Ruhe. Jagt Verbrecher! Aber nicht ehrliche und treue Christenmenschen.«
Grimaud trat nahe an Madeleine heran. »Mit dir habe ich etwas ganz Besonderes vor, meine Schöne. Du wirst dann keinen Gedanken mehr an andere verschwenden, sondern ganz und gar mit dir selbst beschäftigt sein. Darauf freue ich mich schon jetzt. Ich will es in deinen schönen Augen sehen – diesen Ausdruck von panischer Angst, dieses Flehen, damit ich von dir lasse, diese absolute Hilflosigkeit. Wenn dir keine einzige Sicherheit mehr bleibt. Das, meine Schöne, kann ich kaum erwarten.«
Ludolf von Suchen sagte mit klarer Stimme: »Solche Spitzel und Verräter werden am Tag des Jüngsten Gerichtes zum Fegefeuer verdammt.«
»Es wird kein Jüngstes Gericht geben, Ludolf«, sagte Henri mit müder Stimme. »Das ist die allerschlimmste Erkenntnis. So steht es im neuen Evangelium. Niemand wird Grimaud richten!«
»Das glaube ich nicht. Es kann nicht sein.«
Henri richtete sich auf. »Was Ihr erfahren wollt, Grimaud, das erfahrt Ihr von mir. Lasst die anderen in Frieden, und vor allem kümmert Euch um den Jungen. Er braucht medizinische Hilfe. Ich sage Euch alles, was Ihr hören wollt. Mehr könnt Ihr nicht erwarten. Ich bitte Euch als Christenmenschen, die Unschuldigen gehen zu lassen.«
Grimaud befahl ungerührt: »Lasst den Karren vorfahren. Und dann ab mit dem Pack nach Famagusta!«
Uthman riss so stark am Zügel, dass sein Pferd wieherte und auf die Hinterbeine stieg. Er musste es mit leiser Stimme beruhigen. Es war ihm etwas eingefallen, das ein völlig neues Licht auf die Fragen warf, die ihn beschäftigten.
Er blieb stehen, sein Pferd scharrte mit den Hufen. Uthman blickte über die Landschaft auf Enkomi hinab und überlegte.
Hatte er alles richtig in Erinnerung behalten?
Irgendetwas stimmte nicht. Er hatte alles gesehen und gelesen, und doch
Weitere Kostenlose Bücher