Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
Vom Netzwerk:
stehen. Aber womöglich ahnten die anderen, dass jemand kommen würde, der genau das tat, was er jetzt vorhatte. Egal, er musste es riskieren.
    Uthman durchquerte einen dunklen, modrig riechenden Raum. Noch einmal trat er leise durch eine Tür.
    Vor ihm lag die Krypta.
    Uthman blickte sich um. Der Raum war niedrig, die Decke wurde von klobigen Säulen getragen, die sich nach unten und oben verdickten. In der Dunkelheit konnte er die Einzelheiten des Raumes nicht erkennen. Aber dann sah er doch, wonach er suchte.
    Im westlichen Teil der Krypta, dort, wo sich noch leere Gestelle für die aufzunehmenden Sarkophage befanden, stand ein Sarg, der sich von den anderen im Raum unterschied.
    Er trug keine Spinngewebe, keinen Staub, keine Platte, auf der Kopf und Körper des Verstorbenen abgebildet waren.
    Uthman trat näher.
    Seine Finger fuhren über das Holz des Sarges. Es war einfaches Holz, ohne jede Verzierung. Auch fehlte jeder Blumenschmuck. Uthman griff nach dem Deckel. Im ersten Moment war er enttäuscht. Denn der Deckel saß fest. Dann jedoch merkte er, dass er nur klemmte. Jetzt ließ er sich zur Seite schieben.
    Uthman nahm den Deckel vom Sarg.
    Er schaute in den Sarg hinein. Und er sah, was er befürchtet hatte.
    Im Sarg lag die Leiche des Sakristans. In seinem Hals klaffte ein dunkles Loch. Eine schwarze Wunde im weißen Fleisch des ausgebluteten Halses.
    Dort hatte ein Pfeil gesteckt.
    Der Sakristan trug seine Mönchskluft. Er hatte die Hände gefaltet. Jetzt sah Uthman, dass unter seinen Händen etwas lag. Zwischen Brust und Händen eingeklemmt, steckte ein Papyrus.
    Uthman überlegte. Konnte er es wagen?
    Kurz entschlossen griff er nach den Händen des Toten und versuchte, die Blätter darunter hervorzuziehen. Aber es gelang ihm nicht, der Tote war noch steif von der Leichenstarre. Uthman musste die Finger des Toten brechen, um an das Manuskript zu gelangen.
    Dem Sarazenen schauderte. Er versuchte zu erkennen, was auf dem Manuskript stand. Er hatte zwar einen Verdacht, aber es gelang ihm nicht, die Schrift zu entziffern.
    Uthman hielt inne. Er blickte zu dem kleinen Fenster in der Westseite der Krypta, es war das einzige im Gewölbe. Von dort fiel Mondlicht ein. Konnte er darauf hoffen, dass es noch heller wurde? Uthman entschied, dass es keinen Zweck hatte zu warten.
    Er holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Dann machte er sich ans Werk. Er brach die Fingerknochen des Toten einzeln. Nun konnte er den Papyrus darunter hervorziehen.
    Uthman las.
    Und er begriff.
    Der Sakristan hatte seine Aufgabe erfüllt, dann hatte man ihn aus dem Verkehr gezogen.
    Man hatte ihn zusammen mit dem Evangelium des Matthäus bestattet. Genau so, wie sie es einst mit Barnabas getan hatten.
     
     
    Sean erschrak fast ein wenig, als Grimaud ihn berührte. Das er dies tat, war sehr ungewöhnlich, immerhin hatte er den Jungen bisher so gut wie möglich ignoriert. Jetzt allerdings legte er ihm die Hand auf die Schulter und trat ganz nahe an ihn heran. Noch ehe Sean wusste, wie ihm geschah, sagte Grimaud:
    »Das hast du gut gemacht, Junge! Ganz außerordentlich!«
    Dann zog Grimaud blitzschnell einen kurzen, fein geschliffenen Dolch aus seinem Gewand hervor und stach ihn Sean in die Seite.
    Madeleine begriff nicht, was geschah. Henri war noch immer mit Jesus de Burgos beschäftigt, der langsam zu sich gekommen war und plötzlich auf ihn einredete.
    Sean brach in die Knie. Er stöhnte leise. Seine Hände streckte er Hilfe suchend nach Henri aus, dann sackte er zusammen und lag auf dem Boden.
    Madeleine schrie auf. Henri bemerkte jetzt, was geschehen war. Er ließ Jesus los, der daraufhin taumelte und sich auf einen Hocker setzen musste. Grimaud verließ schnellen Schrittes den Raum. Sean stöhnte, sein Gesicht war weiß, aber er war bei Bewusstsein.
    »Was ist passiert?«, rief Henri. »Es kann doch nicht sein, sicherlich täusche ich mich…«
    Sean vermochte nur apathisch die Hand nach Grimaud auszustrecken, der in diesem Moment das Gasthaus verließ. Henri blickte zu ihm hinüber. Grimaud verschwand.
    Henri schwindelte. Nach allem, was er von Uthman gehört hatte, fügte sich dies hier nahtlos ein. Alles geriet in Unordnung. Das Undenkbare konnte am helllichten Tag geschehen. Jemand beging ein Verbrechen und ging ruhig davon.
    Henri kniete neben Sean nieder. Er bettete den Kopf des Verletzten in seinem Schoß.
    »Sean! Bei Gott! Du darfst nicht sterben!«
    Madeleine war ebenfalls herbeigeeilt. Sogar Jesus de Burgos kam

Weitere Kostenlose Bücher