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Das neue Evangelium

Das neue Evangelium

Titel: Das neue Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mattias Gerwald
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Barone dieser Stadt, hatte Pierre de Libertin gesagt, sind die reichsten der Welt. Aber sie sind prunksüchtig. Sie müssen ihren Reichtum immer zur Schau stellen. Ja, dachte Grimaud und blickte um sich auf die geschmückten Wagen und Pferde, das sieht man. Der Statthalter hatte erzählt, dass die reichen Zyprioten alles für ihre Jagdleidenschaft verbrauchten. Er kannte einen Grafen von Jaffa, der mehr als fünfhundert Jagdhunde besaß. Jeweils zwei Hunde hatten einen Diener, der sie badete und salbte. Ein anderer Edelmann besaß mehr als ein Dutzend Falkner, die glänzender lebten als Adlige am Hof von Frankreich. Und es gab Noble und Ritter, die sich zweihundert Männer in Waffen halten konnten. Wenn sie auf die Jagd gingen, wohnten sie in den Bergen und Wäldern in Prunkzelten, streiften von Ort zu Ort, jagten mit Hunden und Falken und schliefen in den Zelten. Alles, was sie brauchten, war gleich einem Hofstaat um sie herum – Speisen, Kamele, Pferde, Huren.
    Und das alles, dachte Grimaud wütend, hier am äußersten Ende der Christenheit. Haben die hier es verdient, dass zu ihnen alle Schiffe kommen, große und kleine, und alle Waren, woher sie auch stammen, immer zuerst in diese Häfen gebracht werden? Sie haben es nicht verdient, gab sich Grimaud selbst die Antwort. Sie sollen von Hunger, Pest und Erdbeben verschluckt werden! Ihre Prunkumzüge sollen untergehen! Der Sand soll unter ihnen nachgeben und alles verschlingen!
    Aber vorher gebt die Straße frei, dachte Grimaud. Oder, weiß Gott, ich setze Waffen ein!
    Er bezähmte sich. Die letzten Wagen zogen vorüber. Junge Mädchen schwangen kokett ihre Röcke. Grimaud konnte sich nicht beherrschen. Er beugte sich seitlich vom Pferd, zog ein junges Ding mit dunklen Augen und einem kirschroten Mund zu sich empor und bedeckte seinen Hals und seine Brüste mit wilden Küssen. Dann setzte er das Mädchen wieder ab und lachte laut.
     
     
    Der französische Hauptmann, der sich in der Wachstube als Johann Lochan vorgestellt hatte, schritt in Begleitung zweier Wachen über die dunklen Gänge des unterirdischen Kerkers. Das einzige überirdische Verlies, so erklärten sie ihm gerade, sei der Turm, aber der sei von seinen Gefangenen geräumt worden. Der Hauptmann bekam einen Schrecken. Aber dann beruhigte ihn der Wachmann. Die Gefangenen lebten noch, was er persönlich sehr bedauerlich fand, sie seien nur in einen noch sichereren Kerker verlegt worden, wo sie auf ihren Tod warteten.
    Der Hauptmann ersparte es sich, darauf hinzuweisen, dass der sichere Tod gewiss an ihnen vorbeigehen würde.
    Dass sie jedenfalls nicht in diesem Kerker sterben würden. Er ließ die Wachleute vorangehen und folgte ihnen über immer neue Gänge und Treppen.
    Die Bohlentüren zu den Verliesen machten einen sicheren Eindruck. Von hier zu fliehen war aussichtslos. Nachdem sie die letzte, ruhig brennende Wandfackel passiert hatten und es dunkler wurde, steckte ein Wachmann die Fackel an, die er mit sich führte. Dann standen sie vor einer Tür, vor der ein Wächter an einem kleinen Tisch saß. Er döste vor sich hin. Beim Anblick der Näherkommenden sprang er auf.
    »Los! Die Tür auf! Die Gefangenen werden verlegt.«
    »Schon wieder?«, maulte der Wächter.
    »Diesmal für immer. Dann sind wir sie los. Sie kommen nach Frankreich.«
    »Mir ist es egal, wohin sie kommen. Hauptsache, ich muss nicht mehr in dieser kalten Finsternis hocken und darüber nachgrübeln, warum hier unten in letzter Zeit der Boden unter meinen kalten Füßen bebt.«
    »Der Boden bebt?«
    »Ja, vorhin. Es ist, als tobe weit unten eine Brandung. Bald zerbirst alles.«
    »Eine Brandung auf dem Meeresgrund? Bist du besoffen?«
    »Das kam doch schon mal vor. Als vor drei Jahren…«
    »Quatsch! Schließ schon auf!«
    Der Wächter zog sein klirrendes Schlüsselbund vom Gürtel und suchte umständlich nach dem passenden Eisenschlüssel. Er fand ihn, drehte ihn herum und zog die Tür auf.
    Der Wächter mit der Fackel ging hinein. Im Verlies herrschte Halbdunkel, es gab hier tatsächlich ein Fenster, durch das dämmriges Tageslicht fiel.
    Der französische Hauptmann trat in das Verlies. Es stank bestialisch. Er sah die Gestalten im Stroh sitzen. Diese blickten ihn an, rührten sich aber nicht.
    Der Hauptmann befahl: »Rührt euch, und zwar ein bisschen plötzlich! Ihr werdet verlegt!«
    Der Hauptmann hörte, wie die Frau einen leisen Schrei ausstieß. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. Er warf einen schnellen Blick auf sie,

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