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Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)

Titel: Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz , Kai Schreiber
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anderen Buch bedeutet das einfach, dass den Leuten das Buch nicht gefällt und sie es nach ein paar Seiten weglegen. Aber niemand «liest» Logarithmentabellen von vorne bis hinten, man schlägt sie dort auf, wo man sie braucht. Logarithmentafeln enthalten auf den ersten Seiten die Logarithmen für Zahlen mit 1 am Anfang und arbeiten sich dann zu den größeren Anfangsziffern durch. Wenn die ersten Seiten abgenutzt sind, die letzten aber nicht, dann schlagen die Benutzer der Tafeln Zahlen, die mit 1 anfangen, viel häufiger nach als solche, die mit 9 anfangen. Aus irgendeinem Grund fangen die meisten Zahlen, die da draußen frei rumlaufen, mit 1 an. Naiv würde man erwarten, dass alle neun Ziffern gleich häufig vorkommen, aber offenbar mag die Welt die 1 lieber als die 9. Was geht hier vor? Es handelt sich um eine dieser absurden Erkenntnisse, die man zunächst auf einen dummen Zufall schiebt und dann vergisst.
    Bis 57 Jahre nach Newcomb ein amerikanischer Physiker namens Frank Benford dasselbe bemerkte, ebenfalls an Logarithmentafeln. Benford testete den Zusammenhang ausgiebig an mehr als 20 000 Zahlen, die er aus diversen Quellen zusammengesammelt hatte, unter anderem aus Baseball-Statistiken, mathematischen Tabellen, Postadressen und Zeitungsartikeln. Eine Mammutarbeit, denn in Zeiten ohne Internet war das Sammeln von Zahlen mühseliger als das Sammeln von Pilzen. Egal, wo Benford seine Daten fand, die 1 war immer die häufigste Anfangsziffer. Benford gab dem Problem seinen Namen, und jetzt wurden allmählich auch andere stutzig. Gerade noch rechtzeitig, denn ein paar Jahrzehnte später wurden elektronische Taschenrechner erfunden, und die Zeit der Logarithmentafeln ging ihrem Ende entgegen.
    Newcomb und Benford liefern für die Häufigkeit von Anfangsziffern gleich eine mathematische Formel, die auch nicht ohne Logarithmus auskommt: P(d) = log(1 + 1/d). «P(d)» steht für «Probability(digit)», die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Ziffer «d» am Anfang einer Zahl auftaucht; «log» ist in diesem Fall der Logarithmus zur Basis 10. Mit einem Taschenrechner kann man innerhalb weniger Sekunden ausrechnen, dass P(1) = 0,301 (also 30,1 Prozent) ergibt. Etwa 30 Prozent aller Zahlen fangen mit 1 an, etwa 18 Prozent mit 2 und nur knapp 5 Prozent mit 9. Mit Logarithmentafeln hätte diese Rechnung sicherlich ein wenig länger gedauert.
    Zwei Dinge sind bei Benfords Gesetz erklärungsbedürftig: Warum folgen überhaupt viele Zahlengruppen dem Gesetz? Und welche Eigenschaften muss eine Gruppe aus Zahlen haben, um Benfords Gesetz zu genügen? Im Idealfall würde man gern vorhersagen können, ob eine gegebene Liste von Zahlen dem Gesetz genügt oder nicht, und zwar, bevor man die ersten Stellen abgezählt hat. Danach wäre es einfach.
    Theodore «Ted» Hill, emeritierter Professor für Mathematik an der Georgia Tech University in Atlanta, ist ein langjähriger Freund von Benfords Gesetz. In seiner Online-Datenbank finden sich mehr als 600 Artikel zu diesem Thema. Oft liest man, es sei nichts Geheimnisvolles an Benfords Gesetz, der Zusammenhang sei vollkommen klar und jedes weitere Nachdenken über seinen Ursprung Zeitverschwendung. Ted Hill hält von solchen Aussagen nichts. Seine letzte Arbeit zum Thema, in Zusammenarbeit mit dem Österreicher Arno Berger geschrieben, heißt: «Benfords Gesetz schlägt zurück: keine einfache Erklärung in Sicht.»
    Die zahlreichen Vermutungen über Benfords Gesetz fallen in drei unterschiedliche Gruppen. Zwei davon versuchen die Herkunft der Zahlenkolonnen zu simulieren. Die erste hat etwas mit Zählen zu tun. Wenn man von 1 bis 9999 zählt, dann haben genau 11 Prozent (ein Neuntel, weil keine Zahl mit 0 anfängt) der so erzeugten Zahlen eine 1 am Anfang. Zählt man weiter bis 19 999, so steigt der Anteil der mit 1 anfangenden Zahlen auf 55 Prozent. Macht man weiter bis 99 999, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, eine 1 am Anfang einer Zahl zu finden, wieder auf 11 Prozent. Je nach Obergrenze liegt die Häufigkeit für die Anfangsziffer 1 in einer Menge aus Zahlen, die man durch Zählen erzeugt, irgendwo zwischen 11 und 55 Prozent. Rechnet man genauer nach, kommt man im Mittel auf circa 30 Prozent, genau wie das Benford’sche Gesetz behauptet.
    Ein paar der Zahlenkolonnen, die Benfords Gesetz folgen, entstammen tatsächlich einer Art Zählvorgang. In Benfords Liste finden sich zum Beispiel die Gewichte der Atome des Periodensystems. Ein kleiner Ausschnitt aus dieser Zahlenreihe:

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