Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
Tasse durch wesentlich kompliziertere und bläst alles auf unvorstellbare Dimensionen auf, dann hat man so etwas Ähnliches wie einen Quasar konstruiert. Die Energie wird in diesem Fall als Licht abgestrahlt und landet nach geraumer Zeit in unseren Fernrohren.
Auf dem Weg dorthin muss das Licht allerdings oft durch intergalaktische Nebelschwaden, die zwischen uns und den Quasaren liegen. Wir wissen das, weil die Atome in diesen Wolken aus Gas Licht verschlucken, das dann im Teleskop nicht mehr ankommt. Welche Sorten Licht die Atome verschlucken, hängt auf subtile Art wieder von der Feinstrukturkonstante ab, die man daher präzise ableiten kann.
Die Elektronen in Atomen befinden sich auf verschiedenen Energieniveaus, so wie sich die Bewohner eines Mehrfamilienhauses auf mehrere Etagen verteilen. Will ein Elektron eine Etage nach oben, so benötigt es eine bestimmte Menge an Energie, die es sich zum Beispiel von Licht holen kann. Jedes Lichtteilchen trägt eine exakt festgelegte Energiemenge, die nur von seiner Frequenz abhängt. Deswegen verschlucken Atome Licht bei spezifischen Frequenzen. Analysiert man das Licht eines Quasars, so ist er bei bestimmten Frequenzen weniger hell als sonst, weil die erwähnten Wolken Atome enthalten, die genau dieses Licht wegnehmen. Die Stellen, an denen Licht fehlt («Absorptionslinien»), kann man für alle möglichen Atome in Ruhe auf der Erde ausmessen und dann mit den Quasardaten vergleichen. Anhand der Absorptionslinien kann man nicht nur die Anwesenheit von bestimmten Atomen überprüfen, sondern auch jede Menge nützliche Dinge messen, z.B. die Temperatur des Gases, die Entfernung der Wolke – und eben die Feinstrukturkonstante, weil sie die Abstände zwischen den Elektronenetagen regelt.
Weil die Quasare oft mehrere Milliarden Lichtjahre entfernt sind, ist das Licht, das wir empfangen, auch mehrere Milliarden Jahre alt. Wir sehen also nicht nur in die Ferne, sondern auch in die Vergangenheit, viel weiter zurück als mit dem Oklo-Reaktor. Die bisher beste Methode, um aus Quasarlicht α zu ermitteln, stammt von einem australischen Team unter der Leitung von John K. Webb. Der Schlüssel zum Erfolg ist hier die Analyse von ganzen Serien aus Absorptionslinien und mehreren Atomarten auf einen Schlag. Leider ist auch hier der Weg zur Feinstrukturkonstante unangenehm kompliziert und abhängig von unserem Wissen über die Innereien der Atome, mit denen man es zu tun hat. Außerdem ist die erforderliche Messgenauigkeit unverschämt hoch, und schon winzige unerkannte Fehler machen alles kaputt.
Mit ihrer neuen Technik bewaffnet begaben sich die Australier zum Riesenteleskop «Keck», das seit Anfang der 1990er Jahre auf einem erloschenen Vulkan in Hawaii steht und mit Hilfe eines zehn Meter großen Spiegels Licht einsammelt. Und tatsächlich: Webb, der Doktorand Michael Murphy und diverse Kollegen fanden 2001 erstmals eine Veränderung von α in der Gegend von knapp 0,001 Prozent, und zwar für Quasare, die 6 bis 12 Milliarden Lichtjahre entfernt sind. Zunächst waren die Australier misstrauisch, aber ein Test nach dem anderen bestätigte ihr Ergebnis. Die Konstante ist offenbar nicht konstant.
So einfach jedoch funktioniert Wissenschaft nicht, insbesondere nicht, wenn man an ihren Fundamenten rüttelt. Die Leute nehmen die Sensation erst mal zur Kenntnis und warten ab, ob andere Forscher mit anderen Riesenteleskopen das Ergebnis bestätigen. Der natürliche Gegenspieler des amerikanischen Keck-Teleskops ist das europäische «Very Large Telescope» (VLT), das in der Atacama-Wüste in Chile steht. Zwischen 2004 und 2006 wurden diverse Versuche unternommen, mit dem VLT das Gleiche zu tun wie mit dem Keck, und alle Messungen ergaben dasselbe Ergebnis: α steht wie eine Eins und ändert sich nicht – im krassen Widerspruch zum Keck-Resultat.
Widersprüchliche Ergebnisse sind immer interessant, weil sie erst zu langen Debatten und dann oft zu neuen Ideen führen. Bisher steht es unentschieden zwischen den Australiern und ihren Kontrahenten. Auffällig ist jedenfalls, dass die zwei Teleskope unterschiedliche Ergebnisse liefern. Manche sehen darin einen klaren Hinweis auf unentdeckte systematische Fehler bei einem der beiden. Webb und Co. gehen mittlerweile einen Schritt weiter. Sie analysieren die VLT-Daten mit ihrer eigenen Methode und finden, Überraschung, eine variable Feinstrukturkonstante – aber in die andere Richtung. Bei den Keck-Quasaren war α in der Vergangenheit
Weitere Kostenlose Bücher