Das neue Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (German Edition)
Onanieren hingegen nicht länger als Männer, nämlich im Schnitt vier Minuten. Die Techniken, die die überwiegende Mehrheit dabei einsetzt, haben – anders als beim Mann – mit dem Geschehen beim Geschlechtsverkehr eher wenig zu tun, im Klartext: Das Einführen von Gegenständen in die Vagina ist nicht so beliebt, wie man erwarten könnte. Die Klitoris wiederum sitzt nicht da, wo die Evolution sie eigentlich hätte anbringen müssen, wenn das Erzeugen von Orgasmen beim Verkehr ihre Hauptaufgabe wäre. Befragungen (auf deren Probleme wir noch zu sprechen kommen) ergeben ziemlich einhellig, dass nur eine Minderheit halbwegs zuverlässig durch Geschlechtsverkehr zum Orgasmus gelangt. Das alles ist nicht leicht mit Erklärungen in Einklang zu bringen, denen zufolge sich der weibliche Orgasmus im Zusammenhang mit dem Fortpflanzungsakt entwickelt hat.
Ein anderes Problem aller Anpassungstheorien sind die fehlenden Anzeichen dafür, dass die Orgasmusfähigkeit Einfluss auf den Fortpflanzungserfolg hat. Bis ins 19. Jahrhundert gingen Rechtsmediziner davon aus, dass bei Vergewaltigungen mangels Orgasmus der Frau keine Schwangerschaft entstehen kann. Wurde eine Frau durch eine Vergewaltigung schwanger, war offenbar ihre «Liebeshitze» hinzugekommen, es handelte sich also nach damaligem Rechtsverständnis nicht mehr um eine Vergewaltigung. Heute weiß man, dass Frauen problemlos ohne Orgasmus schwanger werden. Im Zusammenhang mit Kinderwunschbehandlungen taucht öfter der Ratschlag auf, nach der künstlichen Befruchtung zu onanieren, weil der Orgasmus die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöhen soll, aber für eine Wirksamkeit dieser Technik gibt es keine Belege. Das bedeutet nicht, dass diese Belege nicht noch auftauchen könnten, aber nach derzeitigem Wissensstand hat der weibliche Orgasmus keine Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden.
Als konkrete Begründung für die Befruchtungshilfetheorie wird angeführt, dass sich beim Orgasmus «der Muttermund senkt und dadurch tiefer ins Sperma eintaucht» oder die Gebärmutter durch rhythmische Kontraktionen staubsaugerartig das Ejakulat aus der Vagina pumpt. Zwar sinkt beim Orgasmus tatsächlich der Druck in der Gebärmutter, wie C. A. Fox und Kollegen 1970 in einem Versuch herausfanden, bei dem sie ein Messgerät in der Gebärmutter einer Frau platzierten (bei der es sich vermutlich um Fox’ Ehefrau Beatrice handelte, «ohne deren Hilfe diese Forschungsarbeit nicht möglich gewesen wäre»). Dem Ejakulat scheint dieser Unterdruck allerdings egal zu sein, dafür sprechen jedenfalls Experimente der Sexualwissenschaftler Ernst Gräfenberg (nach dem der G-Punkt benannt ist), William Masters und Virginia Johnson. Sie brachten Röntgenkontrastflüssigkeit in einem Pessar vor dem Gebärmutterhals an, die dort jedoch tatenlos liegen blieb und keine Anstalten machte, sich aufsaugen zu lassen. Auch hilft dem Sperma die Hilfestellung vielleicht gar nicht weiter, denn der Gedanke liegt zwar nahe, dass die Fruchtbarkeit steigt, wenn das Sperma schneller Richtung Ei befördert wird, aber Forschung besteht nicht aus naheliegenden Gedanken, und untersucht hat den Sachverhalt bisher offenbar noch niemand.
Vor denselben Problemen stehen die Anhänger der in den letzten Jahren beliebten «Spermakonkurrenz»-Orgasmustheorien. Das Modell sieht vor, dass Weibchen mit Hilfe des Orgasmus das Sperma genetisch überlegener Männchen zügiger Richtung Ei transportieren. Das ist dann von Interesse, wenn mehrere Kopulationen mit unterschiedlichen Partnern in einem kurzen Zeitraum stattfinden. Dieser Brauch wird bei vielen Tierarten gepflegt. Er ist auch bei Menschen nach Ansicht der Spermakonkurrenzanhänger beliebt genug oder war es wenigstens in jüngerer evolutionärer Vergangenheit, um einen solchen Mechanismus lohnend erscheinen zu lassen. Spermakonkurrenz ist bei Tieren gut belegt, ob es sie beim Menschen überhaupt gibt, ist aber umstritten, erst recht als Erklärung des weiblichen Orgasmus. Falls es sich tatsächlich so verhalten sollte, dass genetisch besser ausgestattete Männer für mehr Frauenorgasmen sorgen, benötigt diese – noch zu belegende – Theorie jedenfalls als Grundlage ebenfalls einen noch zu erklärenden Staubsaugermechanismus.
Wer die Hypothesen vom Orgasmus als Befruchtungshilfe besser belegen wollte, müsste also erstens zeigen, dass beim Orgasmus Flüssigkeit in die Gebärmutter gesaugt wird, zweitens, dass sich dadurch die
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