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Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence

Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence

Titel: Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Robertson
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vorstellen, und nichts davon behagte ihr.
    Aber Gulliver sagte es ihr ohnehin. » Ich hab ihn nach meinem Dad gefragt.«
    Ich bring ihn um, dachte Aishe. Onkel Jenico ist ein toter Mann. Aber vorher werde ich ihn foltern und verstümmeln. Langsam. Gnadenlos. Eigentlich ist der Tod noch zu gut für ihn.
    Gulliver unterbrach sich, um noch ein Foto zu schießen. Aishe stand vollkommen reglos da.
    » Er hat geantwortet, er wüsste nichts über ihn«, erklärte Gulliver.
    Aishe war unendlich erleichtert. Nur weil sie ihrem Onkel dieselbe Geschichte erzählt hatte wie Gulliver, hieß das noch lange nicht, dass Jenico sie geschluckt hatte. Der Begriff Familie hatte in der Welt ihres Onkels eine ganz besondere Bedeutung. Selbst die loseste Verbindung durfte nicht leichtfertig aufgegeben werden. Er konnte wer weiß was herausgefunden haben.
    » Kann er auch nicht«, sagte Aishe. » Weil es nichts zu wissen gibt.«
    Gulliver ließ den Fotoapparat sinken. » Du warst nur fünf Jahre älter als ich, oder?«
    Worauf wollte er hinaus?
    » Ja«, bestätigte Aishe. » Ich war jung und dumm. Aber ich bereue es nicht«, fügte sie rasch hinzu.
    Gulliver starrte sie mit schwer zu deutender Miene an.
    » Ich hätte gefragt«, sagte er. » Ich hätte es wissen wollen.«
    » Ich konnte ihn nicht fragen«, erklärte Aishe. » Man weiß nicht sofort, dass man schwanger ist! Es vergehen erst ein paar Wochen. Und dann war es zu spät.«
    Das klang so einleuchtend, dass sogar Aishe es fast glaubte.
    » Du hast dich nie mit ihm darüber unterhalten, was er beruflich machte? Woher er kam? Wohin er wollte?«
    » Nein.«
    Gulliver senkte den Blick auf die Digitalkamera und fummelte am Objektiv herum.
    » Warum hast du ihn dann überhaupt nach seinem Vornamen gefragt«, sagte er. » Der war dann doch auch scheißegal.«
    Er ließ das Objektiv raus- und reinfahren. » Ich wollte, du hättest mir nie was von ihm erzählt. Wenn er gar keinen Namen hätte, wäre er irgendwie nicht real. Und ich würde nicht über ihn nachdenken. Dass er irgendwo da draußen ist.«
    Aishe sank das Herz. Sie wollte zu ihm laufen und ihn an sich drücken. Wie früher, wenn er traurig oder verletzt war. Aber er war kein kleiner Junge mehr und musste nicht mehr von ihr in die Arme genommen werden.
    Ich könnte es ihm sagen, dachte sie. Irgendwie hab ich ohnehin immer angenommen, es ihm zu sagen. Wenn er älter wäre. Wenn ich nicht mehr solche Angst hätte, ihn teilen zu müssen, weil er schon selbständig ist und seine eigenen Entscheidungen trifft.
    Aber jetzt, wo er wirklich älter ist und es wissen will– kann ich es einfach nicht. Weil ich die ganze Zeit gelogen habe, kann ich ihm jetzt nicht die Wahrheit sagen. Denn wenn ich es ihm jetzt sage, wird er mir nie im Leben wieder vertrauen.
    Aber er braucht etwas. Ein bisschen Trost…
    » Gulliver«, sagte Aishe, » selbst wenn du die Möglichkeit hättest, ihn kennenzulernen, heißt das noch nicht, dass euch etwas verbinden würde. Vater zu sein ist viel mehr, als nur die Hälfte der Chromosomen beizusteuern.«
    Sie sah, wie sich sein Mund zu einem ironischen Lächeln verzog, und wappnete sich. Ihre Blicke trafen sich. Aishe war überrascht, nur leise Resignation in seinem zu sehen. Sie hatte mit Wut und Trotz gerechnet.
    » Ist schon irgendwie komisch«, meinte er. » Zur Hälfte aus dem Erbgut eines Unbekannten zu bestehen.«
    Dann neigte er sich vor und richtet den Fotoapparat auf das Gruppenbild von der Hochzeit. Sein Onkel, sein Cousin und sein Großonkel starrten ihn an.
    Er sagte: » Das sind wohl jetzt die einzigen Männer in meinem Leben.«
    Nach dem Aufbruch von Aishe war Benedict nicht nach Hause gegangen. Auf seinem Handy warteten bereits vier Nachrichten von Izzy sowie eine von Eddie, der seine Hilfe in der Musikschule wollte.
    Es war dunkel, und obwohl es für Anfang November noch mild war, zog Benedict den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Hals zu. Er saß auf der Bank eines Fußgängerwegs, der zwischen Häusern verlief. Tagsüber wimmelte es hier von Joggern, Fahrradfahrern und Müttern mit Kinderwagen. Aber jetzt war er menschenleer.
    Die Häuser auf beiden Seiten waren erleuchtet. Ihre Bewohner aßen gemeinsam zu Abend oder sahen fern. Wenn mich jemand hier sieht, dachte Benedict, ruft er wahrscheinlich die Polizei. Ein fremder junger Mann in Lederjacke, der im Dunkeln sitzt– so einer hat entweder Drogen genommen oder spioniert aus, in welches Haus man am leichtesten einbrechen kann. Dass er

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