Das Nilpferd
Zeuge sie geworden waren. Michael erinnerte sich allerdings daran, daß er seine älteren Söhne zur Seite gezogen und ins Bett geschickt hatte und daß Davids Hand in seiner sengend heiß und Simons ganz kalt gewesen war.
Ein paar Wochen darauf nahm Michael David beiseite.
»Davey, wir müssen über deine Gabe sprechen.«
»Meine Gabe, Daddy?«
»Du weißt, was ich meine, wenn ich das sage. Dein Heilen. Ich hätte früher darüber sprechen sollen.«
Michael berichtete David jene Episoden aus dem Leben Albert Bienenstocks, die er ihm bislang verschwiegen hatte: die Heilung und dann der Tod Benkos, die danach einsetzende Verfolgung, der Argwohn und die Ächtung durch die Gemeinde und ihre Rabbiner.
»Deine Gabe, weißt du, ist etwas, was die Welt nicht gerade begrüßt.«
»Und warum sieht Mummy mich dann manchmal so an, als wäre ich krank oder hätte etwas angestellt?«
»Sie ist verwirrt, Davey. Du mußt versuchen, das zu verstehen.«
David nickte. Als nächstes sprach Michael mit seiner Frau.
»Sag mal ehrlich, wie fühlst du dich, wenn du an Daveys Gabe denkst?« fragte er.
»Gabe?« Anne sah ihn erstaunt an.
»Die Gabe, mit der er Edward ins Leben zurückgeholt hat.«
Anne wandte sich, aber Michael ergriff sie an den Schultern und brachte sie dazu, ihm ins Gesicht zu sehen.
»Du weißt, was wir gesehen haben, Anne.«
»Ich weiß …«, sagte sie.
»Es verwirrt dich und macht dir Sorgen.«
Anne nickte.
»Wir müssen dafür sorgen«, sagte Michael, »daß Daveys Leben nicht daran zerbricht. Wir können nicht zulassen, daß die Sache sich herumspricht.«
Anne dachte schweigend darüber nach.
»Du denkst an deinen Vater, nicht wahr?« sagte sie.
»Ich denke an Davey. Bloß an Davey. Er soll nicht wie ein Monster behandelt werden.«
»Aber Liebling, du kannst doch nicht ernsthaft …«
»Reden wir nicht mehr davon.«
»Einverstanden«, sagte Anne. »Wir sollten nicht mehr davon reden.«
Im folgenden Jahr mußte gleichwohl geredet werden. Im Hochsommer 1991 kam Michaels Nichte Jane, um Swafford ein letztes Mal zu besuchen. Sie hatte seit vielen Monaten die ermüdende Grausamkeit ihrer Krankheit bekämpft, und es war nicht zu erwarten, daß sie noch viele Wochen erleben würde. Sie sehne sich, sagte sie, nur noch nach dem ländlichen Frieden und der Liebe ihres Onkels und ihrer Vettern; diese wolle sie als Erinnerung mitnehmen, um sich in den letzten, sinnlosen Tagen im Krankenhaus zu trösten.
Ihr Kollaps bei der
Royal Norfolk Show
wurde für den Anfang eines endgültigen, nicht mehr umkehrbaren Verfalls gehalten. Simon sah sich gezwungen, sie selbst nach Swafford zurückzufahren, obwohl er noch keinen Führerscheinhatte und sich mit Traktoren besser auskannte als mit Janes bockendem BMW. Er hatte die bleiche und hinfällige Gestalt problemlos die Treppe hochgetragen, »leicht wie ein gerupftes Rebhuhn, echt«, und sie im Landseer Room aufs Bett gelegt. Das Zimmer, darin waren die Ärzte sich einig, in dem sie in absehbarer Zeit sterben werde.
In der ersten Woche ihrer Bettlägerigkeit hatten David und Simon Zeit, sie zu besuchen. Simon schaute jeden Vormittag mit Obst, Blumen und Geschichten vom Leben auf dem Landsitz vorbei, und nachmittags kam David mit einem Buch, setzte sich ans Bett und las und schwatzte, bis es Zeit fürs Abendbrot war, unbekümmert, wenn Jane zwischendurch einschlummerte, während er redete.
An ihrem letzten Vormittag in Swafford gingen die Jungen gemeinsam ins Krankenzimmer, feierlich und elegant in ihren Schuluniformen, um ihr Lebewohl zu sagen.
»Ihr seht wie schrecklich blasse Leichenbestatter aus«, sagte sie. »Braucht ihr nicht. Mir geht’s heute schon viel besser.«
Voller Hoffnung schieden die Jungen von ihr. Eine Woche später war Jane auf den Beinen und verkündete, es gehe ihr nicht nur besser, sondern sie sei wirklich geheilt. Nicht allein körperlich, sondern durch und durch geheilt. Sie fühle sich jetzt sogar besser als vor Beginn der Leukämie. Sie behauptete, ihr bisheriges Leben sei das einer Raupe gewesen, und jetzt sei sie als freier und vollkommener Schmetterling wiedergeboren worden.
Anne fragte sie, sehr ernsthaft und unter vier Augen, ob sie glaube, daß es einen handgreiflichen Grund oder eine Ursache gebe, die an dieser Heilung beteiligt seien. Jane machte Ausflüchte und versteckte sich hinter einem großen Wortgestrüpp. Sie sprach von Engeln und Gnade und Reinheit und Werden. Anne verließ sie verwirrt und alarmiert.
Michael kam
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