Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
Sie fühlen sich gekränkt, weil Ihnen Ihre Freiheit genommen wurde, weil die Freiheit Ihres Sohnes genommen worden ist, aber Sie schaffen es nicht – trotz Ihres Professorentitels –, das Gesamtbild zu sehen. Für Gott sind wir Menschen wie die Fische im Meer für den Fischer. Gott liebt jeden von uns, gleichzeitig ist jeder einzelne aber unbedeutend. Wenn ein Waldweg an einem Ameisenhaufen vorbeiführt, treten Sie viele Ameisen tot. Quält das Ihr Gewissen?
Was versuchen Sie zu sagen? Dass das Töten von Menschen wie das Zertreten von Insekten ist?
Nicht für uns. Nicht für Sie und mich. Aber im Gesamtbild, das keiner von uns zu sehen in der Lage ist, weil es Gottes Bild ist. Ihr und mein Leben sind bedeutungslos. Wie die Leben der Erstgeborenen in Ägypten bedeutungslos waren – vom ältesten Sohn des Pharaos bis zum ältesten Sohn einer Sklavin wurden sie Gott geopfert. Wie die Leben der Sünder in Sodom und Gomorrha bedeutungslos waren. Wie die Leben all jener, die bei der Sintflut gestorben sind, bedeutungslos waren. Wir sind alle Gottes Geschöpfe. Der Herr hat uns erschaffen. Er tut mit uns, was er will. Für Gott gelten die von Menschen gemachten Gesetze, unsere Moral und Ethik nicht.
Ich dachte Moral und Ethik entsprängen der christlichen Barmherzigkeit.
Gott liebt uns nicht weniger, weil er uns auslöscht. Er tut das in Liebe.
Sie sind doch nicht ganz bei Trost.
Wer den rechten Glauben hat, wird Gott in der Ewigkeit des Paradieses genießen. Wie viele Jahre Sie in Gestalt eines Menschen hier auf Erden leben dürfen, hat keine Bedeutung.
Sie sind verrückt, sagt Lorenzo. Ihr ganzes Räsonnement ist ein einziger Irrtum. Angefangen von Ihrem Gottesverständnis bis hin zu der megalomanischen Überzeugung Ihres Ordens, als Stellvertreter Gottes zu agieren, in seinem Namen, in seinem Geiste.
Sie missverstehen mich. Wir sind die Werkzeuge seines Willens.
Und wer definiert Gottes Willen?
Seine demütigen Diener. Der Papst. Der Kardinal.
Wie?
Gott lässt ihn verstehen, was Sein Wille ist.
Gott hat den Kardinal verstehen lassen, dass wir entführt werden sollen? Mein Sohn und ich?
An sich ist keiner von Ihnen wichtig. Auch ich nicht. Nur Gottes Wille zählt. Sie sind mit einem ganz konkreten Ziel hierhergebracht worden. Ein Ziel, das wichtiger ist als Sie oder Silvio, wichtiger als ich oder der Kardinal, wichtiger als der Papst.
Um einen verfluchten Code zu dechiffrieren! Wie wichtig kann so etwas wohl sein?
Der Code ist nur ein Mittel zum Zweck. Wir müssen die Codes entschlüsseln, um die Bundeslade und Gott zu finden!
Das ist doch Wahnsinn! Die Bundeslade gibt es nicht. Und wenn es sie gibt, ist auch sie nur … ein Gegenstand! Eine Truhe mit zwei Steintafeln.
Bartholomäus senkt die Stimme: Mit der Lade können wir mit Gott kommunizieren. So steht es in der Bibel geschrieben. Gott wird durch die Bundeslade zu uns sprechen. Die Lade öffnet einen heiligen Kanal direkt zu Gott. Im zweiten Buch Mose steht, dass der Herr mit Mose zusammenkommen und mit ihm reden will vom Gnadenthron herab, zwischen den beiden Cherubim.
Gott meinte das bestimmt nicht wörtlich …
Stellen Sie sich das vor!, sagt Bartholomäus mit einer Heftigkeit, die erkennen lässt, dass er Lorenzos Kommentar nicht gehört hat: Ein Kanal zu Gott!
Ich dachte eigentlich, Gott bräuchte keine Hilfsmittel, um mit uns zu reden.
Sie verstehen nicht, wir Menschen brauchen das, nicht Gott. Wir brauchen das, um uns vor seiner Herrlichkeit zu schützen! Niemand kann mit Gott reden und leben. Das können nur die Propheten. Die Bundeslade wird es uns Menschen ermöglichen, Gottes Stimme zu hören, ohne zu vergehen. In der Gnade Gottes.
Wenn das so ist, verstehe ich natürlich, warum Sie sich diese Truhe sichern wollen.
Der Blick des Mönchs löst sich aus der Ferne des Himmelreichs und richtet sich auf Lorenzo.
Was Sie glauben, spielt keine Rolle. Wie ich sind Sie bedeutungslos. Sie haben eine Arbeit zu erledigen. Sie müssen den Code knacken, Professor Moretti. Also bitte.
Sie geben uns nicht genug zu essen.
Essen? Wozu Essen? Sie bekommen genauso viel wie wir anderen.
Silvio hat die ganze Zeit Hunger.
Er ist ein Kind. Alle Kinder haben Hunger.
Ganz offensichtlich haben Sie keine Kinder.
Ich werde sehen, was ich tun kann.
*
Am Nachmittag werden sie zurück in die Bibliothek gebracht. Silvio beginnt wieder zu malen. Er selbst sitzt da und starrt auf Nostradamus’ Zeichen. Im Strom der Worte des Briefes hat er sich an der
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