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Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5

Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5

Titel: Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Conan Doyle
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Geruch sie aufbringt. Instinktiv wußte die Bestie, daß ein menschliches Wesen erschlagen worden war. Als ich den Riegel zurückschob, jagte sie heraus und stand in Sekundenschnelle über mir. Leonardo hätte mich retten können. Wenn er hinzugesprungen wäre und das Tier mit der Keule bearbeitet hätte, wäre es eingeschüchtert gewichen. Aber der Mann verlor den Mut. Ich vernahm seinen Angstschrei und sah, daß er umkehrte und weglief. Im selben Augenblick bohrten sich mir die Zähne des Löwen ins Gesicht. Sein heißer, stinkender Atem hatte mich schon fast von Sinnen gebracht, und ich spürte den Schmerz kaum. Mit den Händen versuchte ich das dampfende, blutbefleckte große Maul von mir abzuhalten und schrie um Hilfe. Ich merkte, daß das Lager in Aufruhr geriet, und dann weiß ich noch dunkel, wie mehrere Männer – Leonardo, Griggs und andere – gelaufen kamen und mich den Klauen des Löwen entrissen. Das war meine letzte Erinnerung, Mr. Holmes, und sie blieb mir während so vieler langer, quälender Monate. Als ich wieder zu mir kam und mich im Spiegel sah, verwünschte ich den Löwen – oh, wie ich ihn verfluchte! –, nicht weil er meine Schönheit zerstört hatte, sondern weil er nicht auch mein Leben zerstört hatte. Ich hatte nur noch ein Verlangen, Mr. Holmes, und ich besaß genügend Geld, es mir zu erfüllen. Ich bedeckte von da an mein armes Gesicht, damit es niemand erblicken sollte, und bezog eine Wohnung, wo mich keiner von denen, die mich früher gekannt hatten, finden würde. Mir war nichts anderes übriggeblieben, und mehr wollte ich dann auch nicht. Ein armes, wundes Tier hat sich in seine Höhle verkrochen, um zu sterben – das ist das Ende der Eugenia Ronder.«
      Nachdem die unglückliche Frau ihre Geschichte erzählt hatte, saßen wir eine Weile schweigend da. Dann streckte Holmes seinen langen Arm aus und tätschelte ihr die Hand mit solcher Sympathie, wie ich sie ihn selten habe äußern sehen.
      »Armes Mädchen!« sagte er. »Armes Mädchen! Die Wege des Schicksals sind wirklich schwer begreiflich. Wenn es keinen Ausgleich nach dem Tod gibt, die Welt wäre ein grausamer Scherz. Aber was wurde aus Leonardo?«
      »Ich habe ihn nie wieder gesehen, noch von ihm gehört. Vielleicht war es unrecht, daß ich gegen ihn solche Bitternis hegte. Vielleicht hätte er, wie diese Mißgeburten, mit denen er durchs Land reiste, auch das Ding lieben können, das der Löwe übriggelassen hat. Aber die Liebe einer Frau darf man nicht so einfach beiseite stoßen. Er hatte mich unter den Tatzen der Bestie liegen lassen, er war von mir gegangen, als ich ihn nötig brauchte; und doch konnte ich es nicht über mich bringen, ihn an den Galgen zu liefern. Was mich selber betrifft, so war gleichgültig, was aus mir würde. Was konnte schlimmer sein als mein Leben, wie es jetzt war? Aber von dem, was ich tat oder unterließ, hing Leonardos Schicksal ab.«
      »Und er ist jetzt tot?«
      »Er ertrank letzten Monat in der Gegend von Margate beim Schwimmen. Ich habe es in der Zeitung gelesen.«
      »Aber was wurde aus der Keule mit den fünf Nägeln, dem wirklich einmaligen, genialen Teil Ihrer Geschichte?«
      »Ich weiß es nicht, Mr. Holmes. In der Nähe, des Lagers gab es eine Kreidegrube, in der sich ein tiefer grünlicher See gebildet hatte. Vielleicht, daß auf dem Grunde des Sees…«
      »Nun, das ist jetzt kaum noch von Bedeutung. Der Fall ist abgeschlossen.«
      »Ja«, sagte die Frau, »der Fall ist abgeschlossen.«
      Wir waren aufgestanden und wollten gehen, doch etwas in der Stimme der Frau erregte Holmes’ Aufmerksamkeit. Schnell wandte er sich ihr zu.
      »Ihr Leben gehört Ihnen nicht«, sagte er. »Legen Sie nicht Hand an sich!«
      »Wem nützt es noch?«
      »Wer weiß. Allein das Beispiel geduldig ertragenen Leidens wäre bereits eine höchst wertvolle Lektion für eine ungeduldige Welt.«
      Die Antwort der Frau war schrecklich. Sie hob den Schleier und trat ans Licht.
      »Ich frage mich, ob Sie es ertragen könnten«, sagte sie.
      Was wir sahen, war grauenvoll. Kein Wort vermag dieses Gesicht zu beschreiben, das keines mehr war. Zwei schöne braune Augen voller Leben, die traurig aus einer grauen Vernichtung schauten, verschlimmerten den Anblick nur noch. Holmes erhob eine Hand zum Zeichen des Mitleids und Protests, und gemeinsam verließen wir das Zimmer.

    Zwei Tage später, als ich meinen Freund besuchte, deutete er nicht ohne Stolz auf eine kleine

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