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Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5

Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5

Titel: Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Conan Doyle
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versetzen?«
      Holmes sah nachdenklich drein und schwieg für einige Augenblicke.
      »Nun, Watson, auf Ihre Theorie läßt sich einiges antworten. Ronder war ein Mann mit vielen Feinden. Edmunds erzählte mir, daß er im Suff fürchterlich gewesen sei. Ein Kerl wie ein Riesenbulle, er fluchte und drosch auf jeden ein, der seinen Weg kreuzte. Ich nehme an, wenn seine Frau, wie unsere Besucherin berichtete, nächtens von einem Monster schreit, so deshalb, weil sie Erinnerungen an den lieben Dahingegangenen plagen. Wie dem auch sei, ehe wir nicht alle Tatsachen kennen, bleibt unser Spekulieren unfruchtbar. Auf der Anrichte steht kalter Fasan, Watson, und eine Flasche Montrachet. Wir wollen unsere Kräfte erneuern, ehe wir sie wieder beanspruchen.«

    Unser Hansom setzte. uns vor dem Haus der Mrs. Merrilow ab, und wir sahen die dicke Dame, den Eingang zu ihrem bescheidenen, einsamen Haus versperrend, in der Tür warten. Es war deutlich, daß ihr Hauptziel darin bestand, den Verlust eines wertvollen Mieters zu verhindern, und ehe sie uns nach oben führte, bat sie dringlich, wir sollten nichts sagen und tun, was ein solch unwillkommenes Resultat herbeiführen könne. Nachdem wir sie beruhigt hatten, folgten wir ihr über die steile, mit einem abgetretenen Läufer belegte Treppe zum Zimmer der geheimnisvollen Mieterin.
      Der Raum war eng, muffig, schlecht gelüftet, wie wir es uns hätten vorstellen können, da die Bewohnerin ihn selten verließ. Mir schien, als habe die Frau durch ihre Übung, Tiere in Käfigen zu halten, selbst Gewohnheiten eines Tieres im Käfig angenommen. Sie saß in einem wackligen Lehnstuhl in einem dunklen Winkel. Lange Jahre der Untätigkeit hatten den Körper plump gemacht; aber seine üppige Fülle verriet noch, daß sie einmal sehr schön gewesen sein mußte. Ein dichter dunkler Schleier bedeckte das Gesicht, er endete jedoch bereits in Höhe der Oberlippe und ließ einen vollkommen gebildeten Mund und ein fein geformtes Kinn frei. Ich konnte mir gut vorstellen, daß sie ehedem eine sehr bemerkenswerte Frau war. Ihre Stimme klang tönend und angenehm.
      »Mein Name ist Ihnen anscheinend nicht unbekannt, Mr. Holmes«, sagte sie. »Ich dachte mir schon, Sie würden kommen, wenn Sie ihn hören.«
      »Sehr wohl, Madam, wenn ich auch nicht recht weiß, wie Sie annehmen konnten, daß mich Ihr Fall interessiert.«
      »Das erfuhr ich bereits, als ich mich erholt hatte und von Mr. Edmunds, dem Vertreter der Bezirkspolizei, vernommen wurde. Ich fürchte, ich habe ihn damals angelogen. Vielleicht wäre es klüger gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen.«
      »Es ist in der Regel klüger, die Wahrheit zu sagen. Aber warum haben Sie ihn denn angelogen?«
      »Weil das Schicksal eines Menschen davon abhing. Ich weiß, er war ein wertloses, unwürdiges Geschöpf, und doch wollte ich nicht seinen Ruin auf mein Gewissen laden. Wir waren einander einmal nah – so nah!«
      »Liegt dieses Hindernis jetzt nicht mehr im Wege?«
      »Ja, Sir. Derjenige, auf den ich anspiele, ist tot.«
      »Aber warum erzählen Sie nicht jetzt der Polizei alles, was Sie wissen?«
      »Weil es noch eine andere Person betrifft. Diese Person bin ich. Ich könnte den Skandal und das öffentliche Aufsehen, das eine Vernehmung durch die Polizei mit sich bringen würde, nicht ertragen. Ich werde nicht mehr lange leben, doch ich möchte in Ruhe sterben. Ich brauche auch einen urteilsfähigen Menschen, um meine schreckliche Geschichte zu erzählen, damit man, wenn ich nicht mehr bin, alles versteht.«
      »Sie machen mir Komplimente, Madam. Ich bin aber auch ein verantwortungsbewußter Mann. So darf ich Ihnen nicht versprechen, daß ich es nicht, nachdem Sie gesprochen haben, als meine Pflicht erachten könnte, den Fall der Polizei vorzutragen.«
      »Ich glaube, Mr. Holmes, Sie werden das nicht tun. Dazu kenne ich Ihren Charakter und Ihre Me thoden zu gut; ich habe Ihre Arbeit einige Jahre lang verfolgt. Lesen ist das einzige Vergnügen, das mir blieb, und mir entgeht wenig von den Geschehnissen in der Welt. Doch ich will mich auf jeden Fall Ihnen anvertrauen, ganz gleich, was Sie dann aus meiner Tragödie machen. Es erleichtert mein Gewissen, wenn ich Ihnen erzähle.«
      »Mein Freund und ich wären sehr froh, Ihre Geschichte zu hören.«
      Die Frau erhob sich und entnahm einer Schublade die Fotografie eines Mannes. Es war deutlich zu sehen, daß sie einen Akrobaten darstellte, den ein bewundernswerter

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