Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
Mann aber war mürrisch und niedergeschlagen. Ich wurde über allem so verdrossen, daß ich mich, sobald sich eine passende Gelegenheit ergab, entschuldigte und in mein Schlafzimmer zurückzog. Es war ein großer, spärlich möblierter Raum im Erdgeschoß, düster wie das ganze Haus, aber nach einem Jahr Kampieren im Feld, Mr. Holmes, ist man nicht mehr wählerisch, was die Unterbringung angeht. Ich zog die Vorhänge zurück, blickte in den Garten hinaus und stellte fest, daß es eine schöne Nacht mit hellem Halbmond war. Dann setzte ich mich an den helllodernden Kamin, die Lampe neben mir auf dem Tisch, und versuchte, mich mit einem Roman abzulenken. Ralph, der alte Butler, störte mich, als er Kohlen brachte.
›Ich dachte mir, sie könnten während der Nacht knapp werden, Sir. Es ist bitterkalt draußen, und die Zimmer sind kühl.‹
Er zögerte, den Raum zu verlassen, und als ich mich umsah, stand er da mit einem nachdenklichen Ausdruck im faltigen Gesicht.
›Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber ich habe zufällig gehört, was Sie beim Dinner von Master Godfrey sagten. Sie wissen, Sir, daß meine Frau ihn aufgezogen hat, und so kann ich sagen, ich bin sein Pflegevater. Da ist es nur natürlich, wenn wir uns für ihn interessieren. Sie sagten, er hat sich gut gehalten?‹
›Im ganzen Regiment gab es keinen tapfreren Mann. Einmal hat er mich aus dem Gewehrfeuer der Buren gerettet, sonst säße ich jetzt nicht hier.‹
Der alte Butler rieb sich die dürren Hände.
›Ja, Sir, ja, das ist ganz Master Godfrey. Er war immer mutig. Im ganzen Park, Sir, gibt es keinen Baum, auf den er nicht geklettert, wäre. Nichts konnte ihn aufhalten. Er war ein prächtiger Junge – und er war, Sir, selbstverständlich ein prächtiger Mann.‹
Ich sprang aus dem Sessel.
›Was heißt das?‹ rief ich. ›Sie sagen, er war . Sie reden, als wäre er tot. Was sind das für Geheimnisse? Was ist mit Godfrey Emsworth geschehen?‹
Ich packte den alten Mann an der Schulter, aber der schrak vor mir zurück.
›Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Sir. Fragen Sie den Herrn nach Master Godfrey. Er weiß Bescheid. Es steht mir nicht zu, mich einzumischen.‹
Er wollte das Zimmer verlassen, aber ich hielt ihn am Arm fest.
›Hören Sie zu‹, sagte ich. ›Ehe Sie hinausgehen, werden Sie mir eine Frage beantworten, und wenn ich Sie die ganze Nacht festhalten müßte. Ist Godfrey tot?‹
Er konnte mir nicht in die Augen blicken. Er war wie ein Hypnotisierter. Die Antwort kam ihm schwer über die Lippen. Es war eine fürchterliche und nicht erwartete Antwort.
›Wollte Gott, es wäre so!‹ rief er und riß sich los. Dann stürzte er aus dem Zimmer.
Sie können sich denken, Mr. Holmes, daß ich nicht mit freundlichen Gedanken zu meinem Sessel zurückkehrte. Die Worte des alten Mannes schienen mir nur eine Deutung zuzulassen. Für mich stand fest, daß mein armer Freund in irgendeine kriminelle oder doch wenigstens unehrenhafte Handlung verwickelt worden war und dadurch die Familienehre in Gefahr gebracht hatte. Der starre alte Mann hatte seinen Sohn aus dem Haus geschafft und vor der Welt verborgen, um einen Skandal zu verhüten. Godfrey war ein sorgloser Bursche. Er ließ sich leicht von seiner Umgebung beeinflussen. Zweifellos war er in schlechte Hände geraten und verführt worden. Wenn dem so sein sollte, dann war es eine erbärmliche Angelegenheit, aber auch jetzt noch sah ich es als meine Pflicht an, ihn aufzustöbern und festzustellen, ob ich ihm helfen könnte. Bekümmert überdachte ich noch die Angelegenheit, als ich aufblickte und Godfrey Emsworth vor mir sah.«
Mein Klient hielt inne, wie jemand, den eine tiefe Gemütsbewegung erfaßt hat.
»Fahren Sie bitte fort«, sagte ich. »Ihr Problem offenbart einige sehr ungewöhnliche Züge.«
»Er stand draußen am Fenster, Mr. Holmes, das Gesicht war gegen die Scheibe gepreßt. Ich sagte Ihnen schon, daß ich zuvor in die Nacht hinausgesehen hatte. Dabei hatte ich die Vorhänge nicht wieder ganz zugezogen. Jetzt erschien seine Gestalt in dem Spalt. Das Fenster reichte bis zum Fußboden, und so konnte ich ihn in ganzer Länge sehen. Aber es war sein Gesicht, das meinen Blick fesselte. Er war totenblaß – nie habe ich einen Menschen so weiß gesehen. So sehen vielleicht Gespenster aus; aber seine Augen trafen die meinen, und es waren die Augen eines Lebenden. Er sprang zurück, als er bemerkte, daß ich
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