Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
der möglichen Lösungen des Falles herunterzusetzen.
»Die Diener«, fragte ich, »wie viele gibt es in dem Haus?«
»Nach allem, was ich weiß, haben sie nur den alten Butler mit seiner Frau. Man scheint dort sehr einfach zu leben.«
»Dann wohnt also in dem einzeln stehenden Haus kein Diener?«
»Nein, es sei denn, der kleine Mann mit dem Bart betätigt sich als solcher. Aber der schien mir etwas Besseres zu sein.«
»Das klingt sehr einleuchtend. Gab es Anzeichen dafür, daß Essen von dem einen Haus in das andere gebracht wird?«
»Da Sie es erwähnen, fällt mir ein, daß ich den alten Ralph mit einem Korb durch den Garten in Richtung des kleinen Hauses habe gehen sehen. Daß es Essen sein könnte, war mir in dem Moment nicht in den Sinn gekommen.«
»Haben Sie irgendwelche Nachforschungen in der Umgebung angestellt?«
»Ja. Ich sprach mit dem Stationsvorsteher und auch mit dem Gastwirt im Dorf. Ich habe sie einfach gefragt, ob sie etwas über meinen alten Freund Godfrey Emsworth wüßten. Beide versicherten mir, er sei auf eine Reise um die Welt gegangen. Er sei nach Hause zurückgekehrt und unmittelbar danach wieder aufgebrochen. Die Geschichte ist offenbar allgemein geglaubt worden.«
»Und Sie haben nicht von Ihrem Verdacht gesprochen?«
»Nein.«
»Das war sehr weise. Man sollte der Sache sicherlich nachgehen. Ich werde mit Ihnen nach ›Tuxbury Old Park‹ zurückfahren.«
»Heute noch?«
Nun war ich in diesen Tagen mit der Klärung eines Falles beschäftigt, in den der Duke of Greyminster tief verstrickt war; mein Freund Watson hat ihn in der Geschichte ›Die Internatsschule‹ beschrieben. Außerdem hatte ich einen Auftrag vom türkischen Sultan, der augenblickliches Handeln erforderlich machte, da politische Konsequenzen ernstester Natur drohten, wenn er hintangesetzt worden wäre. So konnte ich erst – wie mein Tagebuch ausweist – zu Beginn der folgen den Woche gemeinsam mit Mr. James M. Dodd die Reise nach Bedfordshire antreten. Auf der Fahrt nach Euston lasen wir einen würdigen, schweigsamen Herrn von eisengrauer Erscheinung auf, mit dem ich die notwendigen Abmachungen getroffen hatte.
»Ein alter Freund«, sagte ich zu Dodd. »Möglicherweise ist seine Anwesenheit gänzlich unnötig, andererseits könnte es lebenswichtig sein, daß er mit uns fährt. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint es mir nicht erforderlich, die Angelegenheit näher zu erklären.«
Watsons Erzählungen haben den Leser an die Tatsache gewöhnt, daß ich mit Worten nicht verschwenderisch umgehe, noch meine Gedanken enthülle, während ein Fall sich in der Schwebe befindet. Dodd schien überrascht, aber es wurde kein Wort mehr darüber verloren, und wir drei setzten die Reise zusammen fort. Schließlich stellte ich Dodd doch eine Frage, weil ich wollte, daß unser Begleiter sie hörte.
»Sie sagten, Sie hätten das Gesicht Ihres Freundes ganz klar am Fenster gesehen, so deutlich, daß Sie sicher sind, was seine Identität angeht?«
»Darin besteht für mich überhaupt kein Zweifel. Er hatte die Nase an die Scheibe gedrückt. Das Licht der Lampe fiel voll auf ihn.«
»Es kann also nicht jemand gewesen sein, der ihm ähnlich sah?«
»Nein, nein, das war er selbst.«
»Aber Sie sagten, er wirkte verändert.«
»Nur sein Teint. Sein Gesicht war weiß – wie soll ich es nur beschreiben? – wie der Bauch eines Fisches. Es war wie gebleicht.«
»War es überall gleich blaß?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe nur die Stirn ganz klar gesehen, als er das Gesicht gegen die Fensterscheibe preßte.«
»Haben Sie ihm etwas zugerufen?«
»Ich war so überrascht und entsetzt in dem Augenblick. Ich lief ihm dann hinterher, wie ich Ihnen schon berichtete. Doch ohne Erfolg.«
Ich hatte meinen Fall nun praktisch beisammen, benötigte nur noch eine Nebensächlichkeit, um ihn abzurunden. Als wir dann nach einer ziemlich langen Fahrt das seltsame, weitläufige alte Haus, das mein Klient beschrieben hatte, erreichten, öffnete Ralph, der greise Butler, die Tür. Ich hatte den Wagen für den ganzen Tag gemietet und meinen guten Freund gebeten, in ihm sitzenzubleiben, bis wir ihn rufen sollten. Ralph, ein kleiner, verschrumpelter Bursche, stak in der herkömmlichen Tracht der Butler: schwarze Jacke und Pfeffer-und-Salz-Hose – mit einer seltsamen Abweichung. Er trug braune Lederhandschuhe, die er sofort von den Fingern
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