Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
dunkel und still war, schlüpfte ich aus dem Fenster meines Zimmers und machte mich so leise wie möglich auf den Weg zu der geheimnisvollen Hütte.
Ich sagte, daß die Fenster dicht verhangen waren. Jetzt stellte ich fest, daß man sie zusätzlich mit Läden gesichert hatte. Dennoch fiel ein dünner Lichtschein aus einem der Fenster, und auf dieses konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit. Glücklicherweise war der Vorhang nicht gänzlich geschlossen, und im Fensterladen befand sich ein Spalt, so daß ich in das Innere eines Zimmers blicken konnte. Es war ein recht freundlicher Raum mit einer hell brennenden Lampe und einem lodernden Feuer. Mir gegenüber saß der kleine Mann, den ich am Morgen gesehen hatte. Er rauchte Pfeife und las Zeitung…«
»Welche Zeitung?«
Meinen Klienten schien die Unterbrechung seiner Erzählung zu ärgern.
»Tut das etwas zur Sache?« fragte er.
»Es ist äußerst wichtig.«
»Darauf habe ich nun wirklich nicht geachtet.«
»Vielleicht erinnern Sie sich, ob es sich um eine großformatige Zeitung handelte oder um einen kleineren Typ, den etwa die Wochenzeitschriften bevorzugen.«
»Jetzt, da Sie es erwähnen, würde ich sagen, sie war nicht groß. Es könnte der ›Spectator‹ gewesen sein. Wie dem auch sei, mir stand der Kopf nicht danach, auf solche Kleinigkeiten zu achten, denn mit dem Rücken zum Fenster saß ein zweiter Mann, und ich hätte schwören können, daß dieser zweite Mann Godfrey war. Sein Gesicht konnte ich zwar nicht sehen, aber der Umriß der Schultern war mir vertraut. In einer Haltung tiefer Schwermut hielt er den Kopf in die Hände gestützt und den Körper dem Feuer zugewandt. Ich überlegte noch, was ich tun sollte, als mir jemand heftig auf die Schulter klopfte. Neben mir stand Colonel Emsworth.
›Kommen Sie mit mir, Sir!‹ sagte er leise. Schweigend ging er auf das Haus zu, und ich folgte ihm. Er begleitete mich in mein Schlafzimmer, nachdem er einen Fahrplan vom Tisch in der Halle genommen hatte.
›Um acht Uhr dreißig fährt ein Zug nach London‹, sagte er. ›Der Trap wird um acht vor der Tür stehen.‹
Er war weiß vor Wut, aber ich fühlte mich in einer so schwierigen Lage, daß ich nur ein paar unzusammenhängende Entschuldigungen stammeln konnte, in denen ich erklärte, die Sorge um meinen Freund habe mich getrieben.
›Die Sache verträgt keine Diskussion‹, sagte er kurz angebunden. ›Sie haben sich auf eine höchst verdammenswerte Weise in das Privatleben meiner Familie eingemischt. Sie waren Gast und sind zum Spion geworden. Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen, Sir, ausgenommen, daß ich nicht den Wunsch verspüre, Sie jemals wiederzusehen.‹
In diesem Augenblick verlor ich meine Zurückhaltung und antwortete einigermaßen hitzig:
›Ich habe Ihren Sohn gesehen, und ich bin davon überzeugt, daß Sie ihn in Ihrem eigenen Interesse vor der Welt verstecken. Ich weiß nicht im geringsten, aus welchen Motiven Sie ihn so von allem abschneiden, aber ich bin sicher, daß er nicht mehr Herr seines Willens ist. Ich erkläre Ihnen hiermit, Colonel Emsworth, daß ich so lange nicht in meinen Anstrengungen, dem Geheimnis auf den Grund zu kommen, nachlassen werde, bis ich von der Sicherheit und dem Wohlergehen meines Freundes überzeugt bin, und daß ich mich durch nichts, was Sie sagen oder unternehmen, einschüchtern lassen werde.‹
Der alte Bursche sah teuflisch drein, und ich dachte tatsächlich, er stünde kurz davor, sich auf mich zu stürzen. Ich sagte schon, er ist ein hagerer, grimmiger alter Riese, und wenn ich auch kein Schwächling bin, so wäre es mir vielleicht doch schwergefallen, gegen ihn zu bestehen. Jedenfalls machte er auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer, nachdem er mir einen langen wütenden Blick zugeworfen hatte. Ich für meinen Teil nahm am Morgen den Zug, den er mir genannt hatte, mit dem festen Vorsatz, Sie sofort aufzusuchen und um Rat und Hilfe zu bitten.«
Das war der Fall, den mein Besucher vor mir ausgebreitet hatte. Ihn zu lösen, gab es, wie der gewitzte Leser inzwischen schon mitbekommen haben wird, wenig Schwierigkeiten, denn mit einer sehr kleinen Auswahl von Alternativen mußte man zur Wurzel der Angelegenheit vorstoßen können. Dennoch bot er, so einfach er war, interessante und neuartige Züge, und das macht erklärlich, weshalb ich ihn aufzeichne.
Nun, ich begann mit der Anwendung meiner Methode logischer Analyse, um die Zahl
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