Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
die Tür öffnete und die strenge Gestalt des bedeutenden Dermatologen erschien. Doch diesmal waren seine sphinxhaften Züge entspannt, und in seinen Augen stand warme Menschlichkeit. Er trat zu Colonel Emsworth und schüttelte ihm die Hand.
»Es ist oft mein Los, schlechte Nachrichten zu überbringen, selten sind es gute«, sagte er. »So ist mir diese Gelegenheit um so willkommener. Es ist nicht Lepra.«
»Wie!«
»Ein ausgeprägter Fall von Pseudolepra oder Ichthyosis, eine schuppenähnliche Affektion der Haut, häßlich, hartnäckig, aber heilbar und auf keinen Fall ansteckend. Ja, Mr. Holmes, ein bemerkenswertes Zusammentreffen. Aber ist es überhaupt ein Zusammentreffen? Sind da nicht Kräfte am Werk, von denen wir wenig wissen? Wissen wir denn, ob nicht die Ängste, unter denen dieser junge Mann zweifellos gelitten hat, seit er der Ansteckung ausgesetzt war, die körperliche Wirkung hervorgebracht haben, die er fürchtete? Jedenfalls setze ich meine berufliche Reputation… Aber die Dame ist in Ohnmacht gefallen! Ich denke, es wäre gut, wenn Mr. Kent sich um sie küm
merte, bis sie sich von dem freudigen Schreck erholt hat.«
Der Mazarin-Stein
Dr. Watson fand es angenehm, wieder einmal in dem unaufgeräumten Zimmer in der ersten Etage des Hauses in der Baker Street zu sein, das Ausgangspunkt so vieler bemerkenswerter Abenteuer gewesen war. Er blickte sich im Raum um, sah die wissenschaftlichen Tabellen an den Wänden, den säurezerfressenen Experimentiertisch mit den Chemikalien, den Geigenkasten, der in einer Ecke stand, die Kohlenschütte, in der seit je die Pfeifen und der Tabak aufbewahrt wurden. Schließlich fiel sein Blick auf das frische, lächelnde Gesicht Billys, des sehr gescheiten und taktvollen jungen Dieners, der ein wenig dazu beigetragen hatte, den Abgrund aus Einsamkeit und Isolation, der den schwermütigen großen Detektiv umgab, aufzufüllen.
»Alles scheint unverändert, Billy. Sie ändern sich auch nicht. Hoffentlich kann man das auch von ihm sagen!«
Billy blickte ziemlich besorgt auf die geschlossene Tür zum Schlafzimmer.
»Ich nehme an, er liegt im Bett und schläft«, sagte er.
Es war sieben Uhr abends, ein lieblicher Sommertag, doch Dr. Watson kannte die Unregelmäßigkeit, mit der sein alter Freund die Zeit behan delte, gut genug, um bei dieser Eröffnung kein Erstaunen zu verspüren.
»Ich schließe daraus, daß er an einem Fall arbeitet.«
»Ja, Sir. Er ist gerade hart am Ball. Ich mache mir Sorgen um seine Gesundheit. Er wird blasser und dünner, und er ißt nichts. ›Wann soll ich das Dinner fertig haben, Mr. Holmes?‹ fragte Mrs. Hudson. ›Übermorgen um halb acht‹, hat er da geantwortet. Sie wissen ja, wie er sich aufführt, wenn die Fährte heiß ist.«
»Ja, Billy, das weiß ich.«
»Er beschattet irgend jemanden. Gestern ging er als Arbeiter auf die Straße, der einen Job sucht, heute war er als alte Frau verkleidet. Fast hätte er mich überlistet, wirklich, und dabei sollte ich doch inzwischen seine Mittel kennen.« Billy deutete grinsend auf einen bauschigen Sonnenschirm, der am Sofa lehnte. »Das ist ein Stück von dem Altweiber-Kostüm.«
»Aber worum geht es denn, Billy?«
Billy dämpfte die Stimme wie jemand, der über ein wichtiges Staatsgeheimnis spricht. »Ich möchte es Ihnen ja gern erzählen, Sir, aber darf nicht mehr sagen, als das: Es ist der Fall um den Krondiamanten.«
»Was – es geht um die Hunderttausend-PfundBeute?«
»Ja, Sir. Der Stein muß gefunden werden, Sir. Der Premierminister und der Innenminister haben beide da drüben auf dem Sofa gesessen. Mr. Holmes war sehr nett zu ihnen. Im Nu hatte er sie beruhigt, und er versprach ihnen, alles zu tun, was in seiner Macht steht. Dann war Lord Cantlemere…«
»Ah!«
»Ja, Sir. Sie wissen, was das heißt. Er ist ein ganz Strammer, Sir, wenn ich mal so sagen darf. Mit dem Premier komme ich aus, und ich hab auch nichts gegen den Innenminister, der ist von der höflichen, verbindlichen Sorte, aber Seine Lordschaft kann ich nicht ausstehen. Mr. Holmes geht es ebenso, Sir. Der glaubt nämlich nicht an Mr. Holmes und war dagegen, ihm den Auftrag zu geben. Der möchte nur zu gern, daß er keinen Erfolg hat.«
»Und Mr. Holmes weiß das?«
»Mr. Holmes weiß immer alles, was er wissen muß.«
»Dann wollen wir hoffen, daß er Erfolg hat und Lord Cantlemere beschämt wird. Aber, Billy, sagen Sie, was soll
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