Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
denn der Vorhang vor dem Fenster?«
»Mr. Holmes hat ihn vor drei Tagen aufgehängt. Dahinter ist etwas Komisches.«
Billy ging und zog die Draperie beiseite, die den Erker vom Zimmer trennte.
Dr. Watson konnte einen Ausruf der Überraschung nicht zurückhalten. Da saß, tief in einen Lehnstuhl gekauert, das Ebenbild seines alten Freundes – in Morgenrock und allem –, drei Viertel des Gesichts dem Fenster zugekehrt und abwärts gerichtet, so als läse er in einem nicht sichtbaren Buch. Billy nahm den Kopf, ab und hielt ihn hoch.
»Wir können die Kopfhaltung verändern, so daß es lebensechter aussieht. Ich würde das Ding ja nicht anrühren, wenn die Jalousie nicht heruntergelassen wäre. Wenn sie hoch ist, können Sie von der anderen Straßenseite alles sehen.«
»Etwas Ähnliches haben wir früher auch einmal benutzt.«
»Das war vor meiner Zeit«, sagte Billy. Er öffnete den Vorhang ein wenig und blickte auf die Straße hinaus. »Da drüben sind welche, die uns beobachten. Jetzt seh ich einen Burschen am Fenster. Gucken Sie selbst mal.«
Watson hatte gerade einen Schritt auf das Fenster zu gemacht, als die Schlafzimmertür sich öffnete und die lange dünne Gestalt von Holmes zum Vorschein kam, mit bleichem und erschöpftem Gesicht. Doch sein Schritt und sein Verhalten waren lebhaft wie je. Mit einem einzigen Satz war er am Fenster und zog den Vorhang wieder zu.
»Das reicht, Billy«, sagte er. »Sie waren in Lebensgefahr, mein Junge, und gerade jetzt kann ich Sie nicht entbehren. Ach, Watson, es ist schön, Sie wieder einmal in der alten Wohnung zu sehen. Sie erscheinen hier in einem kritischen Augenblick.«
»Das habe ich schon mitbekommen.«
»Sie können gehen, Billy. Der Junge ist ein Problem, Watson. Inwieweit bin ich berechtigt, ihn der Gefahr auszusetzen?«
»Welcher Gefahr, Holmes?«
»Des plötzlichen Todes. Ich erwarte für heute abend etwas.«
»Was erwarten Sie?«
»Ermordet zu werden, Watson.«
»Nein, nein, Sie scherzen, Holmes.«
»Sogar mein begrenzter Sinn für Humor könnte einen besseren Scherz als den entwickeln. Aber inzwischen machen wir es uns gemütlich, nicht wahr? Wie ist es mit einem Schluck Alkohol? Feuerzeug und Zigarren sind am alten Platz. Lassen Sie mich Sie noch einmal im gewohnten Lehnstuhl erleben. Ich hoffe doch nicht, daß Sie mittlerweile meine Pfeife und den elenden Tabak verabscheuen? Er muß mir in diesen Tagen die Nahrung ersetzen.«
»Aber warum essen Sie nicht?«
»Weil sich die Geisteskräfte verfeinern, wenn man ihnen den Brotkorb höher hängt. Als Arzt, mein lieber Watson, müssen Sie sicherlich einräumen, daß alles, was sich Ihre Verdauung auf dem Weg über das Blut nimmt, dem Hirn verlorengeht. Ich bin ein Hirn, Watson. Alles übrige an mir ist Beiwerk. Also ist es das Hirn, dem ich meine Aufmerksamkeit zuzuwenden habe.«
»Und was ist mit dieser Gefahr, Holmes?«
»Ach ja, für den Fall, daß sie real wird, könnte es vielleicht gut sein, Sie bewahren den Namen und die Adresse des Mörders in Ihrem Gedächtnis. Sie können das Scotland Yard übermitteln, mit schönen Grüßen und dem Abschiedssegen. Der Name ist Sylvius – Graf Negretto Sylvius. Schrei ben Sie es mit, Mann, schreiben Sie’s auf! Moorside Gardens 136, N. W. Haben Sie das?«
Watsons ehrliches Gesicht zuckte vor Besorgnis. Er wußte nur zu gut um die gewaltigen Wagnisse, die Holmes auf sich nahm, und er merkte, daß Holmes, was er auch sagen mochte, die Gefahr eher verharmloste als übertrieb. Watson, jederzeit ein Mann der Tat, ergriff die Gelegenheit.
»Rechnen Sie mit mir, Holmes. Ich habe ein, zwei Tage lang nichts zu tun.«
»Ihre Moral ist auch nicht gerade besser geworden, Watson. Zu Ihren anderen Lastern hat sich noch das Lügen gesellt. Sie sehen ganz wie ein vielbeschäftigter Mediziner aus, dessen Terminkalender voll besetzt ist.«
»So Wichtiges steht nun auch nicht an. Aber können Sie den Burschen nicht einsperren lassen?«
»Ja, ich könnte. Das ist es, was ihm solche Kopfschmerzen bereitet.«
»Aber warum tun Sie es nicht?«
»Weil ich nicht weiß, wo sich der Diamant befindet.«
»Ach! Billy erzählte mir – das verschwundene Kronjuwel!«
»Ja, der große gelbe Mazarin-Stein. Ich habe mein Netz ausgeworfen und den Fisch gefangen. Doch den Stein habe ich nicht. Was würde es nützen, wenn man sie festnimmt? Wir könnten die Welt um
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