Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
sich des Vergehens von Zeit bewußt bleibt, was natürlich unvereinbar ist mit dem Genießen einer Liebesromanze in diesem hervorragenden Periodikum.«
Eine Viertelstunde später war der Tisch abgeräumt, und wir saßen einander gegenüber. Er zog einen Brief aus der Tasche.
»Sie haben von Neil Gibson gehört, dem Goldkönig?« sagte er.
»Sie meinen den amerikanischen Senator?«
»Ja, er war einmal Senator für irgendeinen Staat des Westens, man kennt ihn aber mehr als den größten Goldminen-Besitzer der Welt.«
»Ich weiß. Sicherlich hat er einige Zeit in England gelebt. Ein sehr bekannter Name.«
»Ja, etwa vor fünf Jahren kaufte er .einen ansehnlichen Landsitz in Hampshire. Möglicherweise haben Sie von dem tragischen Schicksal seiner Frau gehört.«
»Stimmt. Nun erinnere ich mich. Daher ist mir der Name geläufig. Aber Einzelheiten weiß ich nicht.«
Holmes wies mit der Hand in Richtung eines Stuhls, auf dem einige Zeitungen lagen. »Ich hätte nie gedacht, daß mir der Fall in die Quere kommen würde; sonst wäre ich schon mit meinen Auszügen fertig«, sagte er. »Tatsache ist, daß dieses – wenngleich außerordentlich sensationelle – Problem keinerlei Schwierigkeiten zu bieten schien. Die interessanten Lebensumstände der Angeklagten können die Klarheit der Beweise nicht trüben. Das war die Ansicht, die sich die Jury in der Voruntersuchung gebildet hatte und die auch vorm Polizeigericht herausgekommen ist. Nun ist die Sache ans Schwurgericht in Winchester verwiesen worden. Ich fürchte, es ist ein undankbares Geschäft. Ich kann Tatsachen entdekken, Watson, aber ich kann sie nicht verändern. Wenn nicht gänzlich neue und unerwartete Dinge ans Licht kommen, sehe ich keine Hoffnung für meine Klientin.«
»Für Ihre Klientin?«
»Ach, ich vergaß, darüber habe ich Ihnen noch nichts erzählt. Ich übernehme Ihre verwirrende Gewohnheit, Watson, Geschichten von hinten nach vorn zu erzählen. Am besten lesen Sie erst einmal dies.«
Der Brief, den er mir reichte, war in einer kühnen, herrischen Handschrift gehalten und hatte folgenden Wortlaut:
Claridge Hotel, 3.Oktober
Lieber Mr. Sherlock Holmes,
ich kann nicht mit ansehen, daß die beste Frau, die Gott je geschaffen hat, in den Tod geht, ohne daß alles nur Mögliche zu ihrer Rettung unternommen wird. Ich kann die Dinge nicht erklären – ich kann nur den Versuch unternehmen, sie zu erklären, aber für mich steht außer allem Zweifel, Miss Dunbar ist unschuldig. Sie kennen die Tatsachen – wer kennte sie nicht? Sie waren das Klatschthema des Landes. Und nie erhob sich eine Stimme zu ihren Gunsten! Es ist das verdammte Unrecht, das mich um den Verstand bringt. Diese Frau besitzt ein Herz, das sie daran hindern würde, selbst eine Fliege zu töten. Nun, ich komme morgen um elf, um zu erfahren, ob Sie ein bißchen Licht in das Dunkel bringen können. Vielleicht habe ich einen Hinweis und weiß es nicht. Wie dem auch sei: Über alles, was ich weiß und was ich besitze und was ich bin, dürfen Sie verfügen, wenn Sie sie nur retten. Wenn Sie je in Ih rem Leben Ihre Fähigkeiten haben spielen lassen, verwenden Sie sie auf diesen Fall.
Ihr ergebener J. Neil Gibson
»Das also ist es«, sagte Sherlock Holmes, klopfte die Asche aus seiner Frühstückspfeife und stopfte sie langsam wieder. »Den Herrn erwarte ich. Was die eigentliche Geschichte angeht, so hätten Sie kaum Zeit, alle diese Zeitungen zu bewältigen, deshalb muß ich sie Ihnen in nuce anbieten, wenn Sie an den Entwicklungen verständnisvoll Anteil nehmen sollen. Dieser Mann verkörpert die größte Finanzkraft der Welt, und er ist, wie ich es sehe, ein Mann von höchst gewalttätigem und furchtbarem Charakter. Er heiratete eine Frau, das Opfer der Tragödie, über die ich nicht mehr weiß, als daß sie die Blütezeit des Lebens bereits hinter sich gelassen hatte, was sich um so unglücklicher auswirkte, als eine sehr anziehende Gouvernante die Ausbildung der zwei kleinen Kinder übernahm. Es ist der Fall dieser drei Leute, und der Schauplatz ist ein herrliches altes Schloß, das Zentrum eines historischen englischen Landgutes. Und nun zur Tragödie. Die Frau wurde auf dem eigenen Grund und Boden fast eine halbe Meile vom Hause gefunden, spät in der Nacht, sie war zum Dinner angezogen, hatte einen Schal um die Schultern, und im Gehirn steckte eine Revolverkugel. In ihrer Nähe entdeckte man keine Waffe, und es gab dort auch keinen
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