Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5

Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5

Titel: Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Conan Doyle
Vom Netzwerk:
sehen, und so kann ich den Eindruck, den Miss Dunbar auf mich machte, nie vergessen. Es war kein Wunder, daß selbst ein so mächtiger Millionär in ihr etwas fand, das stärker war als er – etwas, das ihn zügeln und führen konnte. Man spürte ebenfalls, wenn man das starke, klare, und doch gefühlvolle Gesicht betrachtete, daß ihr, selbst wenn sie fähig wäre, eine ungestüme Tat zu begehen, ein edler Charakter innewohnte, der sie stets zum Guten lenken würde. Sie war eine große Brünette, von deren vollkommener Gestalt etwas Achtung Einflößendes ausging, doch stand in ihren dunklen Augen der anrührende Ausdruck von Hilflosigkeit der gejagten Kreatur, die die rings um sie gespannten Netze wittert und keinen Ausweg sieht, dem Garn zu entkommen. Jetzt, da sie die Gegenwart und die Hilfsbereitschaft meines berühmten Freundes spürte, stieg ein Anflug von Farbe in ihre bleichen Wangen, und ein Hoffnungsfunken glomm in dem Blick, der sich uns zuwandte.
      »Hat Mr. Neil Gibson Ihnen vielleicht schon erzählt, was zwischen uns vorgefallen ist?« fragte sie mit leiser, erregter Stimme.
      »Ja«, entgegnete Holmes, »Sie brauchen sich also nicht mehr mit der Erörterung dieses Teils der Geschichte abzuplagen. Nun, da ich Sie sehe, bin ich bereit, Mr. Gibsons Erklärung zu dem Einfluß, den Sie auf ihn gewannen, wie auch zu der Unschuld Ihrer Beziehungen zueinander, zu akzeptieren. Aber warum haben Sie denn diese Lage nicht in der Voruntersuchung dargestellt?«
      »Ich konnte nicht glauben, daß man eine solche Anklage gegen mich erheben würde. Ich dachte, alles müsse sich von selbst aufklären und wir wären nicht gezwungen, die quälenden Einzelheiten eines Familienlebens auszubreiten, wenn wir nur warteten. Aber jetzt begreife ich, daß eine Klärung in weite Ferne gerückt ist und ich mich in einer sogar noch ernsteren Situation befinde.«
      »Meine liebe junge Dame«, sagte Holmes mit Nachdruck, »ich bitte Sie, keine Illusionen zu hegen. Mr. Cummings kann Ihnen bestätigen, daß gegenwärtig alle Karten gegen uns stehen und daß wir alles uns nur Mögliche unternehmen müssen, wenn wir gewinnen wollen. Es wäre eine grausame Lüge, zu behaupten, Sie befänden sich nicht in sehr großer Gefahr. Helfen Sie mir also nach besten Kräften, an die Wahrheit zu gelangen.«
      »Ich werde nichts vor Ihnen verbergen.«
      »Dann erzählen Sie uns von Ihren wirklichen Beziehungen zu Mr. Gibsons Frau.«
      »Sie haßte mich, Mr. Holmes. Sie haßte mich mit aller Inbrunst ihres tropischen Naturells. Sie war eine Frau, die nichts halb tat, und das Maß ihrer, Liebe zu ihrem Mann bestimmte das Maß des Hasses gegen mich. Wahrscheinlich deutete sie unsere Beziehungen falsch. Ich möchte sie nicht ins Unrecht setzen, aber ihre Liebe war, in einem körperlichen Sinn, so vital, daß sie wohl kaum die gedanklichen und geistigen Bande, die ihren Mann an mich fesselten, begreifen konnte, noch sich vorzustellen vermochte, daß mein einzi ges Bestreben dahin ging, ihn zum Guten zu beeinflussen, und daß dieses es war, was mich unter seinem Dach hielt. Ich begreife jetzt, daß ich falsch handelte. Nichts kann mein Bleiben an einem Ort rechtfertigen, an dem ich der Grund für Unglück war, wenn auch sicher ist, daß das Unglück geblieben wäre, wenn ich das Haus verlassen hätte.«
      »Miss Dunbar«, sagte Holmes, »erzählen Sie uns bitte genau, was sich an jenem Abend zutrug.«
      »Ich kann Ihnen die Wahrheit sagen, soweit ich sie kenne, Mr. Holmes, aber beweisen kann ich nichts, und es gibt Punkte – die lebenswichtigen Punkte –, die ich nicht zu erklären weiß und bei denen meine Vorstellung versagt, wie andere sie erklären sollten.«
      »Wenn Sie die Tatsachen beisteuern, gelingt es anderen vielleicht, die Erklärungen beizusteuern.«
      »Beginnen wir also damit, wieso ich mich an jenem Abend an der Thorbrücke aufhielt. Am Morgen hatte ich eine schriftliche Nachricht von Mrs. Gibson erhalten. Sie lag auf dem Tisch im Unterrichtszimmer und ist vielleicht von ihr selbst dorthin gelegt worden. Sie bat mich um ein Treffen nach dem Dinner, da sie mir etwas Wichtiges zu sagen habe; eine Antwort sollte ich auf der Sonnenuhr im Garten hinterlegen, weil sie Mitwisser zu vermeiden wünschte. Ich sah zwar keinen Grund für solche Heimlichtuerei, tat aber, worum sie mich gebeten hatte, und nahm die Verabredung an. Außerdem hatte sie mich noch aufgefor dert, ihre Nachricht zu vernichten, und so

Weitere Kostenlose Bücher