Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
verbrannte ich sie im Kamin des Unterrichtszimmers. Sie hatte große Angst vor ihrem Mann, der sie mit einer Härte behandelte, für die ich ihn häufig tadelte, und ich konnte mir nur vorstellen, daß sie so handelte, weil sie nicht wollte, daß er von unserer Unterredung erfuhr.«
»Und doch hat sie Ihre Antwort sorgfältig aufbewahrt?«
»Ja, ich war überrascht, zu erfahren, daß sie sie in der Hand hielt, als sie starb.«
»Gut. Und was geschah dann?«
»Ich ging zu der verabredeten Stelle, wie ich versprochen hatte. Als ich die Brücke erreichte, wartete sie schon auf mich. Bis zu dem Augenblick besaß ich keine Ahnung, wie sehr dieses arme Geschöpf mich haßte. Sie führte sich auf wie eine Verrückte – ich übertreibe nicht, ich glaube, sie war verrückt, heimtückisch und verrückt und von einer Hinterlist besessen, die Geisteskranken zuweilen vielleicht eigen ist. Wie sonst hätte sie mir Tag für Tag mit Gelassenheit begegnen können und trug doch einen so wütenden Haß gegen mich im Herzen. Ich will nicht wiederholen, was sie sagte. Ihre ganze wilde Wut ergoß sich in ätzenden, schrecklichen Worten. Ich habe nicht geantwortet – ich konnte es nicht. Es war gräßlich, sie zu sehen. Ich preßte mir die Hände an die Ohren und stürzte davon. Als ich floh, stand sie noch auf der Brückenauffahrt und kreischte ihre Verwünschungen hinter mir her.«
»Dort, wo sie später gefunden wurde?
»Ein paar Schritt von der Stelle entfernt.«
»Nehmen wir an, der Tod ereilte sie kurz nachdem Sie sie verlassen hatten: Haben Sie keinen Schuß gehört?«
»Nein, ich habe nichts gehört. Aber, Mr. Holmes, ich war wirklich so erregt und entsetzt von diesem furchtbaren Ausbruch, daß ich nur den einen Gedanken hatte, mich in den Frieden meines Zimmers zu flüchten, und ich war unfähig, etwas wahrzunehmen.«
»Sie sagen, Sie kehrten in Ihr Zimmer zurück. Haben Sie es vor dem nächsten Morgen noch einmal verlassen?«
»Ja. Auf die Nachricht hin, daß das arme Geschöpf tot sei, rannte ich mit den anderen hinaus.«
»Sahen Sie Mr. Gibson?«
»Ja. Er kam gerade von der Brücke zurück. Er hatte den Doktor und die Polizei benachrichtigen lassen.«
»Machte er einen sehr verstörten Eindruck auf Sie?«
»Mr. Gibson ist ein willensstarker und beherrschter Mann. Ich glaube, er zeigt seine Gefühle nie. Aber ich, die ich ihn so gut kannte, bemerkte, daß er tief betroffen war.«
»Jetzt kommen wir zum allerwichtigsten Punkt. Haben Sie je zuvor den Revolver, der in Ihrem Zimmer gefunden wurde, gesehen?«
»Nie. Das kann ich beschwören.«
»Wann wurde er gefunden?«
»Am nächsten Morgen, als die Polizei die Durchsuchung vornahm.«
»Zwischen Ihren Kleidern?«
»Ja, auf dem Boden meines Kleiderschranks, unter meinen Kleidern.«
»Sie haben wohl keine Vorstellung davon, wie lange er dort gelegen haben mag?«
»Am Morgen zuvor ist er noch nicht dagewesen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil ich den Kleiderschrank aufgeräumt habe.«
»Das ist entscheidend. Dann war also jemand in Ihrem Zimmer und hat den Revolver hineingeschmuggelt, um Sie zu belasten.«
»So muß es gewesen sein.«
»Und wann?«
»Das kann nur zur Essenszeit gewesen sein oder während der Stunden, die ich mit den Kindern im Unterrichtsraum verbrachte.«
»Als Sie auch die schriftliche Nachricht erhielten?«
»Ja, von früh an den ganzen Vormittag über.«
»Ich danke Ihnen, Miss Dunbar. Gibt es noch irgend etwas, das mich bei meinen Untersuchungen weiterbringen könnte?«
»Ich wüßte nichts.«
»Am Gestein der Brücke haben wir Anzeichen von Gewaltanwendung gefunden – eine ganz frische Kerbe genau gegenüber der Stelle, wo die Leiche lag. Können Sie sich irgendeine Erklärung dafür vorstellen?«
»Sicherlich ist es ein zufälliges Zusammentreffen.«
»Seltsam, Miss Dunbar, sehr seltsam. Wieso sollte die Kerbe zur Zeit der Tragödie geschlagen worden sein, und ausgerechnet genau an dieser Stelle?«
»Auf welche Weise kann sie nur entstanden sein? Es wäre doch große Kraft vonnöten gewesen.«
Holmes antwortete nichts. Sein blasses, eifriges Gesicht hatte plötzlich den gespannten, total abwesenden Ausdruck angenommen, den ich mit der äußersten Entfaltung seines Genius in Verbindung zu bringen gelernt hatte. So augenscheinlich war die Anspannung seines Geistes, daß keiner zu
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