Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
sprechen wagte, und so saßen wir denn ganz still da – der Anwalt, die Gefangene und ich – und beobachteten ihn konzentriert.
Plötzlich sprang er vom Stuhl hoch, zitternd vor nervöser Energie und dem drängenden Bedürfnis nach Taten.
»Kommen Sie, Watson, kommen Sie!« rief er.
»Was ist, Mr. Holmes?«
»Nichts, nichts, mein liebes Fräulein. Sie werden von mir hören, Mr. Cummings. Mit Hilfe der Göttin der Gerechtigkeit verschaffe ich Ihnen einen Fall, der ganz England aufhorchen lassen wird. Morgen lasse ich Ihnen Nachricht zukommen, Miss Dunbar. Aber nehmen Sie inzwischen bereits meine Versicherung entgegen, daß die Wolken sich verziehen werden; denn ich hege die
größte Hoffnung, das Licht der Wahrheit hervorbrechen zu sehen.«
Die Reise von Winchester nach Thor Place dauerte nicht lange, aber zu lange für meine Ungeduld, und Holmes – das war ihm deutlich anzusehen – kam sie endlos vor. Unrast trieb ihn von seinem Platz, und so ging er im Abteil hin und her, oder er trommelte mit den langen, empfindsamen Fingern auf die Polster der Armlehne. Plötzlich aber, wir näherten uns dem Bestimmungsort, ließ er sich mir gegenüber nieder – wir hatten ein Abteil Erster Klasse für uns –, legte die Hände auf meine Knie und sah mir mit dem seltsam mutwilligen Blick in die Augen, der bezeichnend war für seine mehr koboldhaften Stimmungen.
»Watson«, sagte er, »wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, sind Sie bei unseren Exkursionen stets bewaffnet.«
Daß dem so war, kam auch ihm zugute, denn er kümmerte sich wenig um die eigene Sicherheit, wenn sein Verstand in ein Problem verstrickt war; mein Revolver war mehr als einmal zum guten Freund in der Not geworden. Ich erinnerte ihn an diesen Umstand.
»Ja, ja, ich bin ein bißchen vergeßlich in solchen Dingen. Aber haben Sie Ihren Revolver bei sich?«
Ich zog ihn aus der Hüfttasche, eine kurze, handliche, sehr brauchbare Waffe. Er löste die Trommel, schüttelte die Patronen heraus und untersuchte den Revolver genau.
»Er ist schwer – bemerkenswert schwer«, sagte er.
»Es ist ein solides Stück.«
Er blickte eine Minute lang versonnen auf die Waffe.
»Wissen Sie, Watson«, sagte er dann, »ich glaube, Ihr Revolver wird eine sehr enge Verbindung mit dem Geheimnis eingehen, das wir gegenwärtig untersuchen.«
»Mein lieber Holmes, Sie scherzen.«
»Nein, Watson, ich meine es ganz ernst. Wir haben ein Experiment zu veranstalten. Wenn es gelingt, wird alles klar sein. Und das Experiment wird davon abhängen, ob Ihre kleine Waffe sich bewährt. Eine Patrone nehme ich weg. Jetzt stekke ich die restlichen fünf in die Trommel und lege den Sicherungshebel um. So! Auf diese Weise ist er gewichtiger und besser geeignet.«
Ich hatte keinen Schimmer, was in seinem Kopf vorging, und er tat gar nichts, mich aufzuklären, sondern saß gedankenverloren da, bis wir in die kleine Hampshire-Station einfuhren. Wir mieteten eine klapprige Kutsche, und eine Viertelstunde später waren wir beim Haus unseres vertrauten Freundes, des Sergeanten.
»Einen Anhaltspunkt, Mr. Holmes? Worum handelt es sich?«
»Alles hängt vom Verhalten von Dr. Watsons Revolver ab,« sagte mein Freund. »Hier, da sehen Sie ihn. Könnten Sie mir gleich eine zehn Yard lange Schnur besorgen?«
Der Dorfkrämer hatte ein Knäuel starken Bindfaden am Lager.
»Ich denke, das ist alles, was wir brauchen«, sagte Holmes. »Und jetzt, wenn’s beliebt, machen wir uns auf die – wie ich hoffe – letzte Etappe unserer Reise.«
Die Sonne ging unter und verwandelte das wellenförmige Hampshire-Moor in ein wundervolles herbstliches Panorama. Der Sergeant, der durch viele kritische und ungläubige Blicke seine tiefen Zweifel an der geistigen Gesundheit meines Gefährten zu erkennen gab, schlich neben uns her. Als wir uns dem Schauplatz des Verbrechens näherten, sah ich, daß mein Freund unter all der zur Schau getragenen Gelassenheit in Wahrheit sehr erregt war.
»Ja«, sagte er, eine Bemerkung von mir aufgreifend, »Sie haben mich schon das Ziel verfehlen sehen, Watson. Ich besitze einen Instinkt für derlei Dinge, aber der hat mich manchmal doch in die Irre geführt. Als der Gedanke in der Zelle zu Winchester zum erstenmal aufblitzte, glaubte ich, meiner Sache ganz gewiß zu sein; aber eine Schattenseite eines stets wachen Gehirns ist, daß man immer eine alternative Erklärung findet, nach der
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